Pandemie: Präsenzlernen geht nicht mehr – Das ist auch gut so

Die Verkündung der Kontakt-Beschränkungen im März 2020 hatte uns sehr plötzlich überrascht. Wir Learning Professionals begannen unsere Präsenz-Angebote vorübergehend ins Netz zu verlagern. Der Not gehorchend, aber mit der Überzeugung, in wenigen Monaten ist das vorbei. Die jetzt wieder stark ansteigenden Infektionszahlen in Deutschland, allen Nachbarländern und weltweit, zerstören unseren Traum alter Normalität in naher Zukunft. Wir müssen uns auf eine längere Zeit mit Corona einstellen. Präsenz-Veranstaltungen sind kaum noch denkbar, insbesondere, wenn sie mit Reisen verbunden sind.

Online-Lernen nicht als Ersatz fürs Präsenz-Lernen denken

Wenn nur noch Online geht, dann können wir Lern-Angebote ganz neu denken. Schauen wir dazu nochmal zurück auf die Bedingungen fürs Präsenzlernen: Eigentlich wäre der Einzelunterricht die beste Lösung. Ein Lehrender könnte sich voll auf den Lernenden einstellen, sein Lerntempo berücksichtigen, seine Fragen klären, … Leider ist diese 1 zu 1 Beziehung ein teure Variante. Bezahlbar wurde das erst, mit dem Klassenunterricht. Die Kosten pro Lernendem sinken mit jedem zusätzlichen Teilnehmer. Eine möglichst große Gruppe im Seminar ist das Ziel aller Präsenz-Veranstalter. Gleichzeitige Anwesenheit ist in der Präsenz nötig – es geht nur “synchrones” Lernen.

Wir wissen es ja schon lange: Es gibt individuell große Unterschiede beim Lern-Tempo, bei den Vorkenntnissen, bei den Lernzielen. Nur können wir bei den Vielen im Präsenz-Seminar darauf nicht wirklich Rücksicht nehmen. Das bedeutet, wir bedienen in der Präsenz-Gruppe nur sehr wenige Lernbedürfnisse optimal. Wir haben nur Glück, dass unsere wenig treffsichere Dienstleistung trotzdem so akzeptiert wird, weil unsere Kunden von Schulzeiten an, nichts Besseres gewöhnt sind.

Die Notwendigkeit, alle zu einer Zeit an einen Ort zu holen, entfällt Online ganz. Die Verbindung zu Lehrenden, Lernbegleitern oder Mentoren lässt sich online gut und einfach herstellen – auch über einen längen Zeitraum. Wenn wir das asynchrone Lernen einplanen – also jeder kann zu seiner Zeit in seinem Tempo lernen – dann werden auch ganz andere Lern-Settings denkbar. Asynchrones Lernen wird auch individuell sehr unterschiedlich ablaufen – und damit sehr wahrscheinlich viel bedarfsgerechter.

Wenn wir heute erstmals Lern-Settings entwickeln würden

Die Idee, möglichst viele in einem Klassenraum zusammenzuholen, würde uns wahrscheinlich nicht einmal einfallen. Bei jeder Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung, versuchen wir heute vom Kunden aus zu denken. Dabei taucht schon die erste Frage auf: Wer ist eigentlich unser Kunde? Die auftraggebende Führungskraft, die ihre Mitarbeiter zu uns schickt, oder die Teilnehmer selber?

Wenn Lernen immer ein individueller Vorgang ist, den man von außen nur anregen und erleichtern kann, dann ist das Lern-Engagement des Teilnehmenden entscheidend. Der Mitarbeiter müsste eigentlich unser Auftraggeber sein, nicht der Chef. Wir Learning Professionals können das nicht direkt ändern. Wir sollten aber in der Organisation darauf hinarbeiten, dass Lernen, Lernzeit und Lern-Budget von den Mitarbeitenden selbst gesteuert werden sollte. (Wenn Lernen gleich Arbeiten und Arbeiten gleich Lernen sein soll, dann bedeutet das nichts anderes.)

Gehen wir also vom Lernenden aus, für den wir unsere Lern-Dienstleistungen gestalten. Er muss am Ende sein Ziel mit unserer Hilfe leichter erreicht haben, als allein! Damit muss er sich individuell gut unterstützt fühlen. Es braucht also ein Angebots-Menü, dass persönlich wählbar ist. Beim Lernen ist es wie beim Essen: Manchmal will man nur die Pommes an der Fritten-Bude, und machmal braucht man die vitaminreiche Vollwertkost als 4-Gänge-Menü. Einige essen manchmal gern allein, andere lieber in geselliger Runde. In jedem Fall will man aber wählen können.

Menüs zum Lernen

Dazu zählt alles, was Einzelnen das Lernen erleichtert. Dazu müssen wir uns angewöhnen, genauer hinzuschauen, wie sich Menschen etwas allein erarbeiten. Das wird sehr unterschiedlich und vielfältig sein. Einige lesen gern Bücher, andere fragen KollegInnen, suchen eine Community dazu, bilden einen lernOS-Zirkel, sehen sich lieber Videos dazu an – und vieles mehr. Das kann ich doch nicht alles anbieten, werden die meisten jetzt sagen. Stimmt. Unsere Rolle ist in dem Modell auch nicht mehr die eines Wissens-Vermittlers. Hier geht es ums Kuratieren von schon Vorhandenem, ums Hinweis-Geben auf relevante Quellen, Experten und Communities, ums Auffindbar-Machen von relevantem Content und guten Experten. Und ja, manchmal wird von uns vielleicht auch noch ein Seminar gewünscht. In den meisten Fällen sind wir aber die Begleiter von Menschen, die sich und ihre Fähigkeiten mit unserer Hilfe leichter entwickeln wollen – und nicht die Lernprozess-Gestalter oder Wissensvermittler.

Persönlicher Kontakt

Es ist unbestritten, dass die Persönlichkeit der bisher Lehrenden einen Effekt auf Motivation und Anstrengung der Lernenden hat. Den persönlichen Kontakt sollten wir auch weiterhin lernförderlich anbieten. Das rechnet sich aber nicht in der Einzel-Betreuung von Teilnehmenden, werden jetzt viele sagen. Rechnen wir mal ein Beispiel:

Wenn bisher 1 Trainer 12 Teilnehmer 3 Tage lang mit je 6 Stunden pro Tag im Seminar betreute, dann war der Trainer 18 Stunden lang mit allen 12 Teilnehmern (216 Tln-Std) beschäftigt. Für Einzelne Lerner kann er sich nur Zeit auf Kosten der Anderen nehmen. (Ich weiß, dass dafür ja Übungszeiten eingebaut werden, um Einzelne bei Schwierigkeiten zu unterstützen.) Generell hat der Trainer nur wenig Zeit für den einzelnen Lernenden.

Wenn wir Wissensvermittlung und Übungen nun asynchron zum Selber-Gestalten bereitstellen (ist ein Einmal-Aufwand), und die 18 Trainerstunden auf die 12 Teilnehmer aufteilen, dann kann sich der Trainer 1,5 Stunden mit jedem Einzelnen beschäftigen. Das sollte er besser nicht am Stück tun. Sechs regelmäßige Online-Gespräche von 15 Minuten zum persönlichen Lernstand mit ein paar Tipps zum weiteren Vorgehen, sind sicher sehr hilfreich für die Entwicklung der Lernenden.

Und der persönliche Kontakt per Video ist gar nicht schlechter als Face to Face, wie wir seit März 2020 erstaunlicherweise erfahren haben. Manche meinen sogar, der intensive Online-Kontakt ist persönlicher.

Kompetenz-Nachweis

Meist waren alle zufrieden, wenn jemand das Teilnahme-Zertifikat als Qualifikations-Nachweis bekommen hat. Schließlich hat er im Präsenz-Seminar gehört, wie es geht. Das können wir bei selbstgesteuertem Lernen nicht mehr behaupten. Deshalb braucht es eine andere Form des Qualifikations-Nachweises. Dabei können wir den Makel der Teilnahme-Bescheinigungen gleich beseitigen. Wer nur weiß wie es richtig geht, hat es noch nicht getan. Erst wenn es in der Echt-Situation angewendet wurde, kann man von Kompetenz sprechen. Also sollten wir künftig Kompetenz bestätigen, denn nur die ist relevant für Unternehmen. Und wenn klar ist, welche Bedingungen zu erfüllen sind, um den Kompetenznachweis zu erbringen, dann kann uns egal sein, welchen Weg Einzelne dorthin nehmen. Die Form dieses Nachweises müssen wir im Unternehmen noch aushandeln. Eine Learning-Branche macht es uns schon lange vor: Die Projektleiter-Zertifizierung erfordert immer ein erfolgreich abgeschlossenes Projekt. So etwas müssten wir doch auch für andere Kompetenzbereiche hinbekommen. Zumal damit auch ganz sicher unser Stellenwert im Business steigt.

Fazit

Freuen wir uns, dass es noch immer Menschen gibt, die auf Grund ihrer eigenen Lernsozialisierung noch Präsenzseminare – oder in Corona-Zeiten Webinare fordern. Das lässt unser Geschäft nicht gleich zusammenbrechen. Wir sollten aber mit Hochdruck an neuen Lernformen arbeiten, die die Selbststeuerung der Lernenden zulassen. Nach dem 70:20:10 Modell machen Mitarbeiter das bei 90% der betrieblichen Herausforderungen ohnehin schon in Eigenregie. Die Online-Vernetzung gibt uns heute viel mehr Möglichkeiten, individuelles Lernen zuzulassen, anzuregen und zu unterstützen. Die einzige Hürde dafür scheinen mir unsere eigenen Gewohnheiten zu sein. Sehen wir die Pandemie als willkommenen Beschleuniger für unser eigene Veränderung an. Vieles davon haben wir ja uns ja schon in der Vision Corporate Learning 2025 vorgenommen.