Agiles Lern-Coaching: die hohe Kunst Kohärenz zu erzeugen? #MOOCamp20

Unterwegs auf dem Lernpfad vier, „Vertiefung agiles Lerncoaching“, in der 5. Woche des #MOOCamp20 gestaltet durch das Team der QualityMinds kommen mir gleich bei der ersten Station die folgenden Gedanken.

„Lernpfad“, was für ein wunderbarer Begriff. Erinnert mich an den „Trampelpfad zur Veränderung“, den wir nach Gerald Hüther beschreiten, wenn wir die gewohnte Datenautobahn in unserem Hirn verlassen, um neues zu lernen (beschäftigt mich regelmäßig, zum Beispiel in „Kreativität statt KPIs: ein Umfeld für Veränderungen“).

Lehrziele versus Lernziele – extrinsisch versus intrinsisch?

Und ja, in den angebotenen Lernpfaden, wird nicht von Lernpfaden gesprochen, sondern von Lehrpfaden. Up´s! Und in der dritten Zeile wird von einem „Lehrziel“ gesprochen und nicht von einem „Lernziel“. Up´s!

Das wirft bei mir gleich folgende Fragen auf:

1. Wessen Ziel ist es?

2. Wozu soll ich genau das lernen?

Was ist denn der Unterschied zwischen einem Lehrziel und einem Lernziel? Lehrziele sind pädagogisch-didaktisch geplante Ziele, die in einer „Lehreinheit“ vom Lernenden erreicht werden sollen. Diese sind unabhängig von dessen Vorwissen, Bedürfnissen, Stärken und Potenzialen. Fazit: extrinsisch motivierte Ziele. Lernziele hingegen sind Ziele, die sich der Lernende eigenständig setzt und dabei an seine Vorkenntnisse, Bedürfnisse, Stärken und Potenziale anknüpft. Fazit: intrinsisch motivierte Ziele.

Und jetzt ist Achtsamkeit geboten! Wie schnell verfalle ich und vielleicht der eine oder andere Leser in eine Bewertung? So nach dem Motto, intrinsisch ist gut und fühlt sich gut an. Extrinsisch fühlt sich nicht gut an, ist nichts für mich. Ist das immer so? Oder kann es auch sein, dass ich nur in meiner Komfortzone verharre? Vielleicht braucht es manchmal ein wenig „Nudging“ oder eben extrinsische Motivation, damit ich mich von der Komfortzone in die Lernzone begebe? Was haben diese Überlegungen mit Corporate Learning zu tun?

Welches Lehrziel hat ihre Organisation?

Liebe Learning- und Development-Professionals (L&D), stellt euch mal vor, ihr würdet diese Frage euren Kollegen oder gar eurem CEO stellen. Was würden die antworten? Könnten die überhaupt etwas mit dieser Frage anfangen? Ist diese Frage überhaupt geeignet, um Leistungsziele einer Organisation zu ergründen? Macht es Sinn, im Corporate Learning von Lehrzielen zu sprechen? Es wird doch von der „lernenden Organisation“ gesprochen und nicht von der lehrenden. Welchen passenderen Begriff könnte L&D nutzen?

Was ist euer Selbstverständnis von Learning- und Development?

Aus meiner Sicht sollte Corporate Learning immer mehr zur passenden, individuellen Unterstützung der Kollegen dienen (und ich mag den Begriff „Performance Support“ nicht, weil er womöglich wieder mit KPIs verbunden wird), damit die ihre Arbeit besser erledigen können. Es sollte primär der Lösung von Problemen dienen, statt einer Anhäufung von Wissen, im Sinne von Lernen und Anwenden, statt Lernen und Abspeichern. Insofern wird das Corporate Learning zu einem Workplace Learning, dem Verschmelzen von Lernen und Arbeiten.

Kohärenz: Wie kommen Ziele der Organisation (ZdO) und Lernziele zusammen?

Zurück zum Lernpfad vier :-). Die erste Etappe ist betitelt mit: „Agiles Lerncoaching und Lernziele (!)“. Es beginnt mit der Frage nach dem „Wozu?“. Wozu genau will ich mich verändern, also etwas Bestimmtes lernen?

Menschen gründen Organisationen, um Menschen mit ihren Produkten oder Dienstleistungen zu unterstützen. Der Zweck der Organisation (schon wieder ZdO:-)) liegt darin, für Menschen Nutzen zu schaffen. Und ich habe bewusst nicht Kunden, sondern Menschen geschrieben. Denn jetzt wird´s interessant.

Wer sich schon mal mit den „The Big five for Life“ von J. Strelecky befasst hat, könnte schon ahnen, worauf ich hinaus möchte. Um nicht zu tief einzusteigen, vereinfache ich: Wenn der Zweck der Organisation (und damit die Ziele) und der Zweck der Existenz (ZdE) des Einzelnen in Resonanz gehen, kann dabei eine Kohärenz entstehen (dazu weiter unten mehr), die zu einer hohen Zufriedenheit auf allen Seiten führt (vgl. „Sweet Spot des Lernens“, in Nele Graf / Denise Gramß / Frank Edelkraut, Agiles Lernen Neue Rollen, Kompetenzen und Methoden im Unternehmenskontext, 2017).

Anders ausgedrückt, wenn aus Sicht des Lerners die extrinsischen ZdO mit dem intrinsischen ZdE harmoniert, dann entstehen großartige Produkte und Dienstleistungen für das Umfeld, den Kunden.

Und was hat das alles mit agilem Lernen oder gar Lern-Coaching zu tun?

Die Antwort auf die zunehmend komplexere Umwelt (VUCA-Welt) ist Agilität, also die kontinuierliche Anpassungsfähigkeit von Menschen, Teams und Organisationen. Ist Lernen dann nicht immer agil? Erinnern wir uns an Schule, Ausbildung, Hochschule und klassische Weiterbildung, dann wissen wir, dass wir sehr viel auf Vorrat gelernt haben, ohne immer zu wissen, wozu und was ist der wirkliche Nutzen. Lernen und Abspeichern. Wenn Agilität die Anpassungsfähigkeit beschreibt, dann sollte agiles Lernen, individuell und der momentanen Herausforderung angepasst sein, so dass der Lerner das Gelernte gleich im Arbeitsprozess mit unmittelbarem Nutzen anwendet.

Der Zweck der Organisation definiert das gemeinsame „Wozu?“, also den „Purpose des Unternehmens“. „Was“ genau brauchen wir, um den Zweck des Unternehmens zu erfüllen? „Wie“ können wir das erreichen? Es geht dabei um die Perspektiven „Ich“, „Wir“, „Alle“ oder wie in der folgenden Abbildung des Impulsvortrages von Vera Gehlen-Baum dargestellt: Individum, Team und Organisation.

Ebenen der Unterstützung beim agilen Coaching

 

Genug abstrahiert, ein praktisches Beispiel, wie ich es interpretiere: Angenommen ein Unternehmen entwickelt Software, um seine Kunden bei der Steuererklärung zu unterstützen. Damit ist das „Wozu?“ und der ZdO geklärt. „Was“ braucht es, um diesen Zweck zu erfüllen? Dazu braucht es unter anderem im Team Anwendungsentwickler. Die können zum Beispiel durch eine IHK-Ausbildung zum Fachinformatiker Anwendungsentwicklung ausgebildet werden.

Soweit so gut und wo genau versteckt sich in diesem Beispiel die notwendige Agilität? Die Ausbildungsverordnung gibt das genaue „Was“ vor. Sie gibt nicht das „Wie“ vor! Eine tolle Chance für einen agilen Lernansatz, am besten im Team. Ähnlich wie in agilen Projekten ist der Product Owner für das „Was“ verantwortlich, man könnte die IHK als Product Owner verstehen. Aus meiner persönlichen Sicht darf es immer ein Product Owner Team geben, um verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen. Das Lern-Team oder das Individuum sollte selbst über das „Wie“ entscheiden, genau wie in selbstorganisierten Projektteams.

Agiles Lernsetting: Welche Rollen können sinnvoll sein?

Hier kommt das Modell des agilen Lern-Coachings ins Spiel, denn in Organisationen geht es wie beschrieben um die „Harmonisierung“ des gemeinsamen „Wozu?“, um das genaue „Was?“ und um das „Wie?“. Der Lern-Coach sorgt dafür, dass zwischen den drei Ebenen Kohärenz entsteht. Bitte Kohärenz nicht mit Konvergenz verwechseln.

Perspektivwechsel: Ich nehme gerne meine Perspektive aus der Physik, um das Phänomen der Kohärenz in diesem Zusammenhang zu beschreiben. Ich meine mit Kohärenz dabei die Eigenschaft, wie gut die oben beschriebenen Ebenen im Einklang sind. Wenn Kohärenz besteht, dann stimmen extrinsische und intrinsische Ziele überein und wie schon erwähnt, entsteht etwas Großartiges.

Wie ist das mit der Rolle des Masters? In verschiedenen agilen Handlungsrahmen ist der Master ein Mitglied des Teams und sorgt innerhalb des Teams für die Einhaltung des Handlungsrahmens. Zum Beispiel für das Timeboxing bei den Dailies, für Visualisierung und Aktualisierung der Kanban Boards usw. Diese Rolle macht auch im Lern-Team Sinn.

Zurück zum Beispiel des Fachinformatikers. Das Lern-Team könnte aus „Lernlingen“ verschiedener Fachrichtungen (inzwischen vier) bestehen, die sich gegenseitig in ihrem Ziel unterstützen, die Ausbildung gemeinsam erfolgreich abzuschließen.

Wer könnte einem „Lern Owner Team „(vgl. Product Owner Team) angehören? Übergeordnet ist sicher die IHK in diesem Fall ein Lern Owner, der die Verantwortung für das Script (Ausbildungsverordnung) trägt. Dies ist eine Perspektive. Eine weitere Perspektive im Lern Owner Team könnte ein Vertreter der Organisation sein, dem es wichtig ist, dass die Lernergebnisse auf das „Wozu“ des Unternehmens einzahlen. Und schließlich könnte ein in der Praxis tätiger Fachinformatiker die „Kundenperspektive“ einnehmen, um zeitnah die Entwicklungen aus der IT-Praxis zu berücksichtigen.

Insofern ist aus meiner Sicht die Rolle des Coaches sehr viel umfassender als auf den ersten Blick wahrgenommen. Sie fängt bei der Unterstützung einzelner Individuen an, geht weiter über die Aufrechterhaltung der Leit- und Schutzplanken von Lern-Teams, bis hin zur Schaffung von Kohärenz dieser unterschiedlichen Perspektiven in einer Organisation und dessen Umfeld.

Fazit

So wie agiles Arbeiten eine neue Form der Führung braucht, so macht es durchaus Sinn, agiles Lernen durch eine neue Form des Lern-Coachings zu begleiten. Damit beides immer mehr verschmelzen kann, ist ein Perspektivwechsel notwendig. Die große Herausforderung liegt darin, den Lerner in den Mittelpunkt zu stellen, ähnlich, wie bei dem Ansatz von „The Big Five for Life“, wo der Mitarbeiter in den Mittelpunkt gestellt wird. Corporate Learning findet immer in der Wechselwirkung zwischen Individuum und Organisation statt. Je besser die Bedürfnisse und damit die Werte von Individuum und Unternehmen übereinstimmen, umso besser für alle Beteiligten. Der Lern-Coach nimmt dabei eine zentrale und sehr anspruchsvolle Rolle ein. Ich bin gespannt, welche weiteren Gedanken auf dem Lernpfad vier entstehen. Welche Gedanken entstehen bei euch ?