Auch das geht online: Seminar für Struktur-Aufstellungen

Körperliches Empfinden, abhängig von Stellung und Nähe zu anderen Repräsentaten im Raum, sind die üblichen Grundannahmen für Strukturaufstellungen. Das geht online gar nicht, wird man zunächst denken. Der Titel “Online-Strukturaufstellungen: Virtuelle Strukturuafstellungen durch Resonanz mehrerer simultaner Aufstellungen” für ein Seminar vom 9. bis zum 11. Oktober 2020 machte mich neugierig. Wenn ein Aufstellungs-Seminar auch virtuell gelingt, dann müssten wir noch bestehende Online-Vorurteile bei vielen Themen zumindest überdenken. Hier der Bericht meines Online-Seminar-Besuches beim SySt-Institut von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer:

Online ist nicht der schlechtere Ersatz von Präsenz!

So startete Matthias Varga von Kibed das Seminar. Ganz im Sinne der Lösungsfokussierung stellten sich Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd die Frage: Was wäre anders, wenn alle Schwierigkeiten mit Online-Aufstellungen plötzlich gelöst wären? Und was davon könnten wir heute schon realisieren?

Dazu fiel ihnen eine ganze Menge ein, was heute schon geht. Da aber noch nicht alle Seminar-Teilnehmer die aktuellste Technik zur Verfügung haben, soll es zunächst auch mit möglichst einfachen Mitteln gehen.

Und dabei wolle man auf die vermutlich auftauchenden Kostbarkeiten des virtuellen Arbeitens achten, die möglicherweise in der Präsenz gar nicht möglich sind. “Wenn wir hier etwas von der Außenwelt vermissen, und wieder in der Außenwelt etwas von hier vermissen, dann werden wir ganz schnell Bürger in vielen Welten!” erläutert Matthias Varga von Kibéd. Er weist auch darauf hin, das virtuell im Deutschen nicht die gleiche Bedeutung hat, wie virtual im Englischen. Dort hat es etwa die Bedeutung wie “fast ganz – nur etwa anders”.

Exzellente Nutzung von Zoom als Seminar-System

25 Teilnehmer mit eingeschalteter Kamera blicken mich freundlich an. Matthias Varga von Kibéd weist uns darauf hin, das eines der Kamera-Bilder ja unseres ist, und das dass ja etwas ganz Ungewöhnliches ist: Wir können uns hier als Teil des “Wir” sehen, beobachten, wahrnehmen. Ein “Simultanes Reflexives Nahes Gegenüber” heißt das in seiner typischen Sprache. Mit dem Herausheben dieses nur Online möglichen Effektes beginnt das Seminar. Diese Bedeutung war mir bisher nicht so bewusst.

Dann lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf die Hintergründe der Personen, die uns alle in ihr eigenes Zimmer (oder den gewählten Hintergrund) eingeladen haben. Dies als gegenseitige Einladung zu sehen, im gleichen Raum zu sein, empfahl er. In keiner Präsenz-Situation kann man so nah den Gesichtern sein, auch das erzeugt Nähe und Verbundenheit.

In der ersten Pause stieß eine Teilnehmerin ein interessante Frage an: In einem physischen Raum sucht sie sich den Platz aus, an dem sie sich wohlfühlt. Im virtuellen Seminar geht das nicht. Sie kann nicht beeinflussen, neben wem sie dort sitzt, was es ihr irgendwie unbehaglich macht. Der Diskusison nach zu urteilen gibt es wohl mehrere, die hier ihre Präsenzerfahrung auf die virtuelle Situation übertragen. Dabei hat es ja keinerlei spürbare Folgen, im virtuellen Meeting “neben dem Falschen” zu sitzen. Zumal die Reihenfolge ja auch nicht überall gleich ist.

Der Referent, Matthias Varga von Kibéd, saß in seiner großen Bibliothek, wie auf einer Bühne. Mit ferngesteuerter Kamera, die er auch aufs Flipchart zoomen und schwenken konnte. Alle Teilnehmenden wurden in (gedachte) Tische eingeteilt, je 6 an vorgegebenen Plätzen. Und alle Tische standen (gedacht) im Kreis, das war das Plenum.

  • Alle Kameras an: Plenumsbetrieb.
  • Alle Kameras aus, bis auf Tisch 2: Öffentliches Gespräch mit Tisch 2.
  • Jeder Tisch in einem Breakout-Room: Gruppenarbeit.
  • Einzelarbeit mit einem Klienten: Alle Kameras aus, bis auf die zwei, damit die in der Gallerie-Ansicht bildschirmfüllend nebeneinander stehen können.

Nur eine Teilnehmerin hatte ein Headset, alle anderen hatten Freisprecheinrichtungen. Der Ton war trotzdem erstaunlich gut, keine Echos, kaum Unterbrechungen, und das 3 volle Tage lang. Die technische Basis beherrschten alle, das war hier überhaupt keine Hürde!

Viele interessante Hintergrund-Erläuterungen

Matthias Varga von Kibéd kann man tagelang zuhören. Das erfordert allerdings volle Konzentration. Seine Darstellungen sind zwar immer verständlich, aber dicht gepackt. Hier nur eine kleine Auswahl der von ihm in diesem Seminar angesprochenen Themen als Grundlagen für die virtuelle Aufstellungsarbeit.

Drei Definitionsmöglichkeiten für Aufstellungen:

  • Aufstellung als Sprache (transverbale Sprache)
  • Aufstellung als Gruppenverfahren eines Klartraumes
  • Gruppenverfahren zur Induktion eines Witness States

Systemische Gestik

Im Kontakt mit Klienten können die Hände des Beraters zu Repräsentanten werden, die eine wirksame Aufstellung darstellen, die der Klient auch von außen betrachten kann. Wenn das in der Präsenz funktioniert, könnte das doch auch über den Bildschirm gehen. Wer mehr über systemische Gestik wissen will, z.B. hier.

Papier-Aufstellungen

Werden im Zweier-Gespräch schon verwendet: Der Klient zeichnet auf einem Blatt Papier Symbole für Repräsentanten mit Blickrichtung und Standort ein. Mit den sogenannten “kataleptischen Fingern” spürt er sich in die Positionen hinein und beschreibt seine Empfindungen. Durch gezielte Positionsveränderungen der Symbole (Neuzeichnen) entwickelt sich die Aufstellung. Gleiche Papier-Bilder bei verschiedenen Personen kann man auch über Bildschirme erzeugen.

Menschliche Repräsentanten

Der Normalfall bei physischen Aufstellungen: Personen stellen sich als Repräsentanten für Systemteile des Klienten zur Verfügung. Dort werden sie vom Klienten über die Schulterberührung “eingerollt” und an den Platz geführt, an dem der Klient diesen Systemteil sieht. Menschliche Repräsentanten sind die im wahrsten Sinne “aussagefähigsten” Repräsentanten, weil sie ihre Unterschieds-Empfindungen an den Aufstellungsplätzen am besten artikulieren können. Das Ein- und Ausrollen der Klienten geht auch online, wie hier demonstriert wurde.

Typisches Matthias-Varga-von-Kibéd-Flipchart

Nicht etwas ist eine Aufstellung, sondern etwas wird als Aufstellung verwendet.

Ein Blatt Papier, dass ein Klient mit Symbolen versieht und als Aufstellung versteht, wird damit zur Aufstellung gemacht. Die bewusste Ernennung zum Repräsentanten (und das Annehmen der Rolle) reicht aus, damit jemand Teil der Aufstellung wird. Das alles ist auch online möglich. Bleibt nur noch das “Einrollen” durch den Klienten. Aber auch das hat Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer in Experimenten gelöst: Wie in der Präsenz-Aufstellung drehen die Repräsentanten der KlientIn (und damit ihrer Kamera) den Rücken zu – und geben die Erlaubnis, sie virtuell an den Schultern zu berühren. Damit sind sie tatsächlich eingerollt. Nur das Führen an den stimmigen Platz erledigt die KlientIn jetzt durch sprachliche Anweisungen.

Diese Stelle erfordert online allerdings einige Orientierungsverabredungen. Matthias Varga von Kibéd schlägt dafür die virtuelle Windrose vor, mit der bei jedem gedachten Ausrichtung: Wo die Kamera hinschaut ist “Norden”. In Kamera-Blickrichtung stecken jetzt die in verschiedenen Orten befindlichen Aufstellungsbeteiligten (KlientIn, GastgeberIn, Repräsentanten) einen gleich großen Raum auf dem Boden ab. Ein Qudratmeter reicht aus. Diesen Raum mit Richtungsangabe (Nord) zeichnet sich jeder auf sein Blatt Papier. Nach dem die Repräsentanten mit Worten an ihren Platz geführt wurden, zeichnet jeder diesen Platz mit Angabe der Blickrichtung ein. Klientin oder Gastgeberin pflegt das “Original” – auch bei jeder Veränderung – und zeigt es allen zum Abgleich ihrer Papiere.

Damit sind diese Papiere jetzt zur Aufstellung geworden, wie auch der reale abgesteckte Raum, auf dem mit Bodenankern oder Platzmarkierungen gearbeitet werden kann. Also, auch wenn Klient und Repräsentanten an verschiedenen Orten sind, fühlen sie sich in der gleichen Aufstellung. Sie können entweder auf dem markierten Platz am Boden stehen, oder mit dem kataleptischen Finger auf dem “Papier-Platz” spüren, was sich verändert, wenn sonst im System etwas geschieht. Das klingt ein wenig aufwändig. Ist es auch. Viellicht geht das besser, wenn alle ein gemeinsames Whiteboard nutzen, und dort für alle gleichermaßen sichtbar Stellungsveränderungen eintragen. Ob das Spüren mit dem kataleptischen Finger auch auf einem Monitor funktioniert, haben wir noch nicht ausprobiert. Aber wir sind ja noch ganz am Anfang mit den Online-Aufstellungen.

Papier-Aufstellung

Fazit

Ich stehe noch immer staunend da. Das Aufstellungen auch über virtuelle Verbindungen der beteiligten Menschen funktionieren, hätte ich nicht gedacht. Und das man das auch noch in einem Seminar mit Übungen online problemlos vermitteln kann, zerstört auch bei mir die letzten Vorurteile, die bei etlichen Themen noch unbedingt für Präsenz-Seminare standen. Und ganz besonders gefällt mir der Ansatz, die Online-Seminare neugierig und wertschätzend zu erkunden, um die Kostbarkeiten zu entdecken, die nur hier möglich sein werden. Mit der Haltung sollten wir Learning Professionals auch an die Gestaltung unserer Online-Varianten gehen.

Einen ganz großen Dank ans SySt Institut für dieses eindrucksvolle Seminar!


Wer nun nur noch Fragezeichen im Kopf hat, weil er sich unter systemischen Strukturaufstellungen gar nichts vorstellen kann, dem sei dieses 7-Minuten Video empfohlen.


Ergänzung 13.10.2020: Romy Gerhard stellt in diesem Artikel Tools für Online-Aufstellungen vor, und beschreibt ihr Vorgehen in Seminaren.