Der Film-Dramaturg Ron Kellermann erläutert sein Vorgehen beim Erstellen von Geschichten. Dramaturgische Fragen leiten ihn, sich die 4 Dimensionen einer Geschichte zu erschließen.
Ron Kellermanns Geschichten bestehen immer aus diesen 4 Dimensionen: Menschen, Konflikte, Werte und Veränderungen. Um sich die zu erschließen, nutzt er je einen Werkzeugkasten mit dramaturgischen Fragen. Das Wichtigste an jeder Geschichte ist die Veränderung: Am Ende muss etwas anders sein als am Anfang. Und zu jeder Geschichte gehört ein irgendwie aufzulösender Konflikt, eine Protagonist der die Lösung anstrebt, und Widerstände, die zu überwinden sind.
Geschichten dienen hauptsächlich dazu, Beziehungen aufzubauen, aufrecht zu erhalten oder zu vertiefen. Das können auch Beziehungen zu Produkten oder Unternehmen sein, nicht nur zu Menschen. Er beginnt seine Geschichten immer vom Ende her zu denken, von den möglichen Lösungen nach vorn!
Mit dem „dramaturgischen Mindset“ lassen sich auch persönliche Krisen analysieren und lösen, wie er an einem eigenen Beispiel erläutert.
Transkribt mit MS Word
Für mich enthält das Gespräch so viele interessante Informationen, dass ich die auch schriftlich festhalten wollte. Da MS Word auch mp3-Dateien trankribieren kann (nur die Web-Version), habe ich gleich einen Versuch hiermit gemacht. Das Ergebnis ist ernüchternd: Es war so viel Nacharbeit nötig, dass ich den Text inzwischen wohl auch von Hand getippt hätte.
Überarbeitetes Transkript des Gespräches
00:00:01 Karlheinz
Ein ganz herzliches Willkommen zur 128. Episode des Corporate Learning Podcasts. Heute sitzt mir ein echter Film Dramaturg gegenüber – zumindest virtuell. Ron Kellermann hat nicht nur das Buch „Storytelling Handbuch“ und das Buch „Fiktionales Schreiben“ geschrieben. Er ist auch Mitgründer der Community filmschreiben.de.
Wir Learning Professionals können gut Fakten und Zusammenhänge so aufbereiten, dass sie verständlich werden. Nur bleiben wir dabei fast immer auf der sachlichen Ebene. Emotionen sind nicht so unser Ding. Das ist bei den Dramaturgen ganz anders. Die verstehen es, Dinge so darzustellen, dass sie unter die Haut gehen. Sie bauen emotionale, Spannungs Kurven in ihre Darstellung ein. Vielleicht gelingt es uns ja, davon ein wenig zu übernehmen.
Ron danke, dass du uns heute zur Verfügung stehst. In einem Vorgespräch hast du mir davon berichtet, dass es eine dramaturgische Frage-Technik gibt, die er anwendet, um eine Geschichte zu schreiben? Wie gehen Dramaturgen vor, wenn sie eine Geschichte entwickeln wollen?
00:01:16 Ron
Ja, also vielen Dank zuerst einmal für die Einladung Karlheinz. Ich freue mich wirklich sehr, heute dein Gast zu sein.
Und es ist im Grunde wie Du sagst, eine Geschichte entwickelt man, indem man bestimmte Fragen stellt, dann natürlich auch die Antworten darauf gibt und diese Antworten zu einem narrativen Ganzen verknüpft.
Das sind im Grunde die 3 Schritte. Und der Ausgangspunkt sind eben die Fragen, beispielsweise Fragen wie: Wer ist die Hauptfigur? Was ist ihr dramatisches Ziel? Welchen Konflikt will sie lösen? Was ist das emotionale Thema der Geschichte? Wie lautet die zentrale Frage? Was ist der erste Wendepunkt in der Konflikt-Entwicklung und so weiter und so fort.
Das ist ein riesengroßer Katalog mit Fragen, die die Dramaturgie bereitstellt, um Geschichten zu bauen. Eine einheitliche Vorgehensweise, wie man diese Fragen anwendet, gibt es dabei allerdings nicht. Es ist noch nicht einmal so, dass ich selbst eine bestimmte Vorgehensweise habe, die ich immer auf die gleiche Art und Weise anwende. Wie ich vorgehe, also welche Fragen ich wann stelle, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Also zum Beispiel von der Autorin oder dem Autor, die ich berate. Von dem Stand der dramaturgischen Qualität ihrer Geschichte.
Von meinem Verständnis von Geschichten – das ist ein ganz wichtiger Aspekt – auch was bedeutet für mich eigentlich eine Geschichte, was ist ihre Funktion für uns Menschen und für uns als Gesellschaft und auch beispielsweise von einem dramaturgischen Modell, mit dem ich arbeite.
Aber da gibt es ja eine ganze Reihe unterschiedlicher Modelle, die unterschiedliche Elemente betonen. Und das grundlegende Modell, mit dem ich arbeite: Das sind die 4 Dimensionen einer guten Geschichte.
Und dieses Modell geht, wie der Name schon sagt, davon aus, dass gute Geschichten aus 4 Dimensionen bestehen, nämlich aus „Menschen“, „Konflikten“, „Werten“ und „Veränderungen“.
Und eine Geschichte oder Geschichten erzählen entsprechend von Menschen. Aber das können auch Organisationen oder Unternehmen sein, die Konflikte lösen wollen oder müssen, in denen universelle Werte auf dem Spiel stehen. Mit universellen Werten sind beispielsweise Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit, Zugehörigkeit, Liebe, Leben, Gesundheit, Anerkennung, Identität usw. gemeint und diese Werte stehen in einer Geschichte in einem Konflikt immer auf dem Spiel. Werden also bedroht und sollen bewahrt werden, oder sind nicht ausreichend realisiert und am Ende realisiert worden. Und am Ende gelingt es denn Menschen oder Organisationen, die Konflikte zu lösen und damit eine positive Veränderung herbeizuführen. Das heißt ihr eigenes Leben, das Leben anderer Menschen, die Gesellschaft oder die Welt als Ganzes zu verbessern. Das ist im Grunde das Basis-Muster aller Geschichten, zumindest von den konventionellen Geschichten. Es gibt natürlich noch die Arthouse Geschichten, die bewusst von diesem Muster abweichen, aber im Grunde geht es immer darum, dass jemand versucht, einen Konflikt zu lösen – und wenn es ihm gelingt, sich am Ende etwas verbessert hat.
Diese 4 Dimensionen lassen sich nun wie Werkzeug-Kästen verstehen, in denen jeweils eine ganze Reihe von Werkzeugen liegen, mit denen man Geschichten bauen kann. Und diese Werkzeuge sind eben die dramaturgischen Fragen.
00:04:16 Karlheinz
Sag nochmal die 4 Dimensionen: Das waren Menschen, Konflikte, Werte, und Veränderungen.
00:04:28 Ron
Gerade diese Veränderungs-Dimensionen ist wichtig, auch wenn es gar nicht so viele Werkzeuge gibt, jetzt speziell in dieser Dimension. Aber wesentlich ist, dass eine Geschichte immer von einer Veränderung erzählt. Das heißt am Ende der Geschichte ist etwas anders als am Anfang. Das kann besser sein, kann schlechter sein. Ich persönlich mag Geschichten, in denen am Ende etwas besser ist als schlechter, weil wir mit schlechten Geschichten oder mit schlechten Ausgängen von Geschichten, haben wir schon genug zu tun der heutigen Zeit. Deswegen bin ich großer Fan von Geschichten des Gelingens.
Am Ende geht es eben gut aus und es wurde etwas verändert zum Positiven. Das kann die Hauptfigur selbst sein, die ihren Charakter verändert. Das ist in Spielfilmen sehr oft der Fall.
Das kann aber eben auch sein, dass das Leben anderer Menschen das kann eine Situation sein, das können bestimmte Umstände sein. Irgendetwas hat sich verbessert und ist besser geworden.
Genau das sind die 4 Dimensionen. Zu jeder Dimension gibt es eine ganze Reihe von Fragen und wenn man diese Fragen richtig anwendet, beziehungsweise wenn man die Antworten richtig zusammensetzt, dann kann man beim Publikum emotionale Reaktionen hervorrufen. Das heißt im Grunde das Publikum dazu zu bringen, dass es hofft, dass die Hauptfigur bekommt, was sie will. Das es bangt, das sie es verliert, dass es sich freut, wenn sie es schafft und dass es traurig ist, wenn sie scheitert.
00:05:46 Karlheinz
Aha, kannst du so ein paar Beispiel Fragen, mal nennen, die zum Beispiel im Werkzeugkasten Veränderungen stehen?
00:05:55 Sprecher 2
Das ist im Grunde ganz einfach, am Anfang steht die Frage, Was ist am Ende anders als am Anfang? Was hat sich verbessert, was hat sich verschlechtert? Ist es eine Sehnsucht-Story oder es ist eine Angst-Story. Das sind ein zwei Basis-Muster von Geschichten, die eben auf eine bestimmte Veränderung hinwirken. Also die Angst-Story beispielsweise erzählt immer von der Zerstörung universeller Werte und von der Katastrophe, in der wir enden werden. Da ist also die Veränderung die darin besteht, dass alles immer schlechter wird, bis wir in der Katastrophe enden. Und in der Sehnsucht Story geht es um die Realisierung von Werten und von dem guten Leben, das wir haben können, wenn wir diese Werte realisieren. Dann geht es also um die positiven Veränderungen. Also das sind die zwei Basis Muster die man wählen kann, um eben eine Geschichte zu erzählen im Hinblick auf die Veränderung.
00:06:49 Karlheinz
Und vielleicht so ein zwei Fragen zum Thema Personen was würde man da fragen?
00:06:55 Ron
Ja gut die erste Frage ist natürlich immer erstmal, wer ist denn überhaupt die Hauptperson, der Haupt Charakter oder die Haupt Protagonistin? Das ist die, die erste wichtige Frage, die man früh beantworten muss, weil man ansonsten keine Geschichte erzählen kann. Dann gibt es ja mehrere aus meiner Sicht ganz, ganz zentrale Fragen. Eine der der wichtigsten Fragen ist die nach dem dramatischen Ziel. D.h. in einer Geschichte geht es immer um eine Hauptperson, die ein bestimmtes dramatisches Ziel hat. Und dieses Ziel ist etwas sehr Konkretes, muss sehr konkret sein, damit am Ende der Geschichte eindeutig entschieden werden kann, ob die Haupt Personen ihr Ziel erreicht oder nicht erreicht. Also zum Beispiel zu sagen, meine Hauptperson soll glücklich sein, ist viel zu abstrakt, weil wir gar nicht wissen, wann genau sie glücklich ist. Und aus diesem dramatischen Ziel, ergibt sich die dramatische Frage: Wird die Haupt-Person ihr Ziel erreichen. Und diese Frage ergibt den Haupt Spannungsbogen. Die wird am Anfang, im sogenannten ersten Wendepunkt gestellt, und ganz am Ende im Höhepunkt wird diese Frage beantwortet. Deswegen ist sie der Haupt Spannungsbogen. Dann ist aber eine genauso wichtige Frage wie die nach dem dramatischen Ziel, ist die nach der Motivation. Also die Frage, warum will die Hauptperson ihr Ziel erreichen? Und da geht es eben wieder um diese universellen Werte, die einfach einen ganz zentralen Stellenwert haben im Geschichten erzählen, weil sie eben die Hauptfigur motivieren, etwas zu tun, ihr Ziel erreichen zu wollen. Also warum will die Hauptfigur ihr Ziel erreichen, um einen universellen Wert zu realisieren. Also, um in Freiheit zu leben, in Sicherheit zu leben, um geliebt zu werden, um einer Gemeinschaft anzugehören und so weiter und sofort.
00:08:38 Karlheinz
Das Warum führt also zu den Werten, diese warum Frage, ja?
00:08:40 Ron
Genau und die Frage wird prinzipiell – finde ich – viel zu wenig gestellt, die Frage nach dem Warum. Also wir sollten uns viel häufiger fragen, warum etwas gerade geschieht, warum jemand handelt, wie er handelt?
Dann würden wir ganz, ganz viel schon auch verstehen, das sieht man jetzt auch in den aktuellen Konfliktlagen. Ich finde wir müssten viel öfter Warum fragen und dann würden wir auch viel eher wissen, wie wir reagieren können und was wir tun können.
00:09:04 Karlheinz
Ja, du sprichst gerade von einem dramaturgischen Ziel. Ich würde das alles gut verstehen, wenn man jetzt einen Film konstruieren will oder so, aber wir haben ja auch im Vorgespräch mal festgestellt das Geschichten überall passieren, und Geschichten die Grundlage für ganz Vieles sind. Da konstruiert man ja jetzt nicht so dramaturgische Ziele, sondern dann nimmt man sich ja ganz bestimmte Dinge vor, die man erreichen will. Ist da ein Unterschied oder ist ein dramaturgisches Ziel, was ganz ganz Spezielles, was wir gar nicht verwenden können.
00:09:45 Ron
Doch im Grunde ist das ja auch die diese ganz konventionelle Formel, was ist ein Ziel. Trifft eigentlich auch auf das dramatische Ziel – ich nenne es dramatisches Ziel. Man kann es auch dramaturgisches Ziel nennen, es gibt es auch Menschen, die das machen.
Das ist das Wichtigste: Es muss konkret sein. Also der Kommissar oder die Kommissarin will den Mörder überführen. Das ist konkret. Am Ende der Geschichte ist klar er ist überführt oder erst nicht überführt. Ein Liebesfilm: Die beiden Liebenden wollen zusammenkommen. Am Ende sind sie zusammen oder sie sind nicht zusammen. Also das muss, das ist der entscheidende Aspekt, das immer so konkret sein, dass eben die Geschichte der Konflikte am Ende auch aufgelöst werden kann. Und zwar endgültig aufgelöst werden kann, und eindeutig aufgelöst werden kann.
00:10:25 Karlheinz
Ok verstehe ich. Jetzt arbeitest du ja im Wesentlichen auch für die Kultur. Für Dinge, die man sich ausdenken kann. Wenn wir jetzt mit einer Geschichte etwas klarmachen wollen, wo wir die Leute überzeugen wollen, ja, das ist der richtige Weg, wir gehen den und geht den mit, zum Beispiel im Unternehmen, verliert das irgendwie an Seriosität, wenn wir da so schöne dramaturgische Elemente einbauen oder was meinst du, müssen wir da sachlicher bleiben?
00:10:59 Ron
Ne muss man nicht. Hier muss man erstmal die Frage stellen, warum wir eigentlich Geschichten erzählen. Auch schon seit Anbeginn der Menschheit wahrscheinlich schon Geschichten erzählen. Wir wissen ja gar nicht genau, seit wann die Menschheit Geschichten erzählt, auf alle Fälle schon sehr lange. Und ich glaube, der Hauptgrund, warum wir Geschichten erzählen, besteht darin, Beziehungen aufzubauen, aufrecht zu erhalten und zu vertiefen. Also das heißt, Geschichten erzählen ist so eine Art Beziehungs-Management. Man guckt, dass die Die Sippe beieinander bleibt, sag ich jetzt einfach mal. Und das sieht auch in den Religionen, die ja im Grunde Geschichten erzählen. Und eben damit dafür sorgen, dass Menschen sich eben als Christ oder als Muslim oder als Jude, als Jüdin identifizieren. Das heißt der Schlüsselbegriff ist im Grunde Identifikation.
Wenn wir eine Geschichte erzählen, dann geht es darum, dass wir versuchen, unser Publikum dazu zu bringen, sich mit der Geschichte, beziehungsweise dann im Spielfilm mit der Hauptfigur oder eben dann mit uns als Erzähler, zu identifizieren. Und dadurch entsteht eine Gemeinschaft, nämlich alle Menschen, die sich mit der Geschichte identifizieren, bilden dann diese Gemeinschaft. Das hat man jetzt in der Corona Zeit kann man das sehr schön sehen auch. Und in vielen anderen Konflikten, wo Menschen dann an eine Geschichte glauben und wirklich eine Gemeinschaft bilden. Das ist auch der Grund, warum beispielsweise Menschen ihre Wander-Ausrüstung bei Patagonia kaufen und nicht bei einem anderen Hersteller. Weil sie sich mit der mit der Story von Patagonia identifizieren. Warum Sie eine bestimmte Partei wählen, zum Beispiel auch. Warum sie Anhänger von Fridays for Future sind und nicht von Fridays for Hubraum. Und so weiter und so fort. Das heißt, es ist immer eine Story, an die sie glauben, mit der sie sich identifizieren. Und wie funktioniert das oder warum funktioniert das überhaupt?
Das hat ganz viel damit zu tun, dass eine Geschichte immer auch eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben und der guten Gesellschaft gibt.
Weil es eben auch um diese Werte geht, das ist immer wieder auch hier der zentrale Aspekt. Und wenn ich nun will, dass die Antwort, die die Geschichte auf die Frage nach dem guten Leben der guten Gesellschaft gibt, wahr wird, dann identifiziere ich mich mit dieser Geschichte. Und will eben, dass sie wahr wird und handle auch möglicherweise entsprechend, um sie wahr werden zu lassen. Das ist eigentlich die Identifikation. Und die gilt es eigentlich herzustellen.
Das ist im fiktionalen Arbeiten, also beim Drehbuch schreiben, geht es eben darum die Identifikation mit der Hauptfigur der Geschichte herzustellen. Um eben auch eine emotionale Wirkung zu erzielen. Im Storytelling geht es eben nicht konkret um die Hauptfigur, sondern da geht es wirklich mehr eigentlich um die Identifikation mit dem Erzähler, also mit einer Organisation mit einem Unternehmen usw. herzustellen.
00:13:55 Karlheinz
Ja, das heißt die Frage nach Glaubwürdigkeit darf man nicht aus dem sachlichen Gesichtspunkt sehen, sondern mehr aus dem Gesichtspunkt, wenn es darum geht, Beziehung herzustellen.
Trotzdem sind die Leute ja immer so ein bisschen skeptisch, wenn wir Dinge ein bisschen ausschmücken, die vielleicht in der Wirklichkeit ein bisschen ganz anders abgelaufen sind. Aber du siehst da eigentlich kein Problem drin? Ich meine die Religionen haben das bestimmt alle auch gemacht?
00:14:22 Ron
Wahrscheinlich, wir wissen ja, dass da auch ziemlich lange dran geschrieben wurde. Von daher, und auch mit weitem zeitlichen Abstand, also von daher war das hier keiner der Augenzeugen.
Naja, man muss da unterscheiden. Also ich hab da eigentlich eine sehr klare Position, wenn ich eine reale Geschichte als eine Story, das ist für mich der Unterschied: Story ist für mich die reale Geschichte und die Geschichte ist für mich die fiktive Geschichte.
Wenn ich also eine reale Story mit einer realen Person, die einen realen Konflikt hat usw. erzähle, dann darf ich nichts hinzu erfinden.
Dann darf ich nur das erzählen, was wirklich passiert ist und was ich auch wirklich nachweisen kann. Weil ansonsten glaube ich, das ist wirklich ein Tor, das sollten wir nicht aufmachen. Also da bin ich persönlich, wenn es eine reale Story ist, dann darf nur das erzählt werden, was tatsächlich passiert ist. Ich darf nichts hinzuerfinden. Wenn ich jetzt eine fiktive Geschichte erzähle – das kann man ja auch machen, auch außerhalb des Drehbuch Schreibens, auch im Marketing oder auch im Bildungsbereich einfach um Dinge zu verdeutlichen. Dann kann ich natürlich, dann bin ich frei, dann kann ich erzählen, was ich will. Dann sollte ich sogar gucken, dass ich natürlich die Geschichte so gut wie möglich mache.
Die Glaubwürdigkeit ist dann eher etwas Immanentes, ist also ist die Geschichte in sich glaubwürdig, plausibel – dann mehr in der Hinsicht.
00:15:41 Karlheinz
Also die Unterscheidung fand ich schon mal sehr interessant. Die reale Geschichte darf man wirklich nicht verfälschen und die fiktive Geschichte, die kann auch wirken, die muss dann aber nicht mit der Realität übereinstimmen. Das ist schon mal eine gute Unterscheidung.
Du bist ja auch Berater für Storytelling und auf dich kommen sicherlich auch Unternehmen zu. Da gibt es ja öfter Fälle, glaube ich, wo du wahrscheinlich gefragt wirst, wie könnten wir denn hier etwas plausibel machen, was als reale Geschichte bei uns passiert und alle irgendwie übernehmen können? Also vielleicht so was ich Vertriebs Leute, die sich mit einer neuen Ausrichtung identifizieren sollen, so dass man mit denen da redet. Gibt es sowas in Form von Storytelling, dass man dann eine schöne Story draus macht?
00:16:36 Ron
Ja, man kann auf alle Fälle mit einer Story eben genau dazu führen, dass die Mitarbeiter in einem Unternehmen sich mit dem Unternehmen identifizieren oder auch mit einem bestimmten Produkt, wenn es jetzt bei Vertriebs Mitarbeitern darum geht, dass sie einfach ein Produkt verkaufen sollen, dann ist ja auch wichtig, dass sie sich mit dem Produkt identifizieren. Je höher die Identifikation ist, desto stärker sind motiviert. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Aspekt. Identifikation führt immer zu Motivation. Das heißt, wenn ich mich mit meinem Unternehmen nicht identifiziere, für das ich arbeite, dann habe ich eine eher geringe intrinsische Motivation für das Unternehmen zu arbeiten, Überstunden zu machen und so weiter und so fort. Wenn ich mich jedoch mit dem Unternehmen identifiziere, also mit der mit der Story, die das Unternehmen erzählt. Das heißt auch mit dem Standpunkt, den das Unternehmen vertritt, mit den Werten, die das Unternehme vertritt mit dem, was es in der Welt – sage ich mal ganz pauschal – verbessern will, wenn ich mich damit identifiziere, dann bin ich natürlich eher bereit, richtig Gas zu geben. Weil dann will ich ja, dass das Unternehmen weiter kommt und dass das auch tatsächlich irgendwie passiert, was das Unternehmen vorhat. Also von daher passt da eine Story, doch im Grunde sehr sehr gut.
00:17:53 Karlheinz
Das heißt, du hast vorhin gesagt, dass das Storytelling Beziehungs-Pflege ist oder Beziehungs-Aufbau bringt und Identifikation ist ja so ein Beziehungs-Aufbau., Das kann ja auch eine Idee in der Beziehung zum Unternehmen oder zu einem Produkt sein. Deshalb ist Storytelling da genau das Richtige.
Sehr schön. Wie aufwendig ist sowas also, wenn jetzt Leute sagen ok, dann mach ich die nächste Erklärung als Story, kannst du irgendwie Zahlen nennen, wo du sagst, naja wenn du eine Minute erzählen willst, musst du soundsoviel Minuten Vorbereitungszeit einplanen?
00:18:32 Ron
Nein, das geht leider nicht, dass hängt immer vom Thema ab. Es gibt bestimmte Themen oder bestimmte Produkte. Da ist es relativ einfach, eine Story dazu zu entwickeln. Bei anderen ist es schwieriger, auch in der Marken Entwicklung für Unternehmen es ist teilweise ganz, ganz unterschiedlich. Dann hängt es in erster Linie aber auch einfach von der Erfahrung ab die man hat. Mit viel Erfahrung bin ich schneller, mit wenig Erfahrung im Storytelling brauche ich eben länger.
Deswegen gibt es da keine Zahlen oder keine Formel, auf die man das bringen könnte. Ich habe vielleicht mal – das ist irgendwie aus einem ganz anderen Bereich, aus dem Drehbuch Bereich, da habe ich viel mit Autorinnen Autoren gearbeitet, die ihr erstes oder zweites Drehbuch geschrieben haben, und die teilweise noch Film-Hochschulen waren oder gerade von der Filmhochschule runtergekommen sind, da kann es schon mal passieren, dass die Entwicklung eines Drehbuches drei, vier oder fünf Jahre dauert.
Und wie lang ist das Ergebnis?
90 Minuten ungefähr, so plus minus. Ja wie gesagt, das ist was ganz anderes natürlich, als eine Produkt-Story oder Unternehmens-Story zu entwickeln, aber es kann mitunter schon länger dauern.
Das hängt von der Erfahrung ab. Je mehr – das ist einfach, das ist das Entscheidende – also wenn ich wirklich wenig Erfahrung habe und aber weiß, was die Werkzeuge sind. Also wenn ich die Fragen kenne, dann ist das schon mal Grund-Voraussetzung, und je mehr Erfahrung ich dann habe in der Anwendung dieser Fragen, umso schneller kann ich dann auch eine Story entwickeln.
00:20:03 Karlheinz
Lass uns nochmal von einer anderen Sicht draufschauen muss nicht eigentlich sowieso eine Story dahinter stecken, wenn irgendwas entwickelt worden ist? Also braucht man die nicht eigentlich nur nach erzählen?
Denn irgendwie hat alles seine Geschichte. Was irgendwo als neues Produkt entstanden ist, ist ja irgendwann mal mit Vorstellungen entstanden, was man erreichen will. Dann hat man Schwierigkeiten gehabt, das umzusetzen. Dann hat man irgendwann es doch geschafft. Und das ist doch eigentlich schon eine Geschichte. Reicht es nicht, die genau zu erzählen?
00:20:42 Ron
Das kann mitunter, oder ist eine Geschichte. Aus meiner Perspektive ist ja alles eine Geschichte oder Element einer Geschichte. Von daher ist das definitiv auch eine, weil es ja immer Probleme gibt. Das ist auch in Change-Prozessen so, die laufen eigentlich immer wie eine Geschichte ab. Mit Hochpunkt und Tiefpunkt und dann den einzelnen Story Elementen, das auf jeden Fall. Ich glaube nur nicht, dass das unbedingt eine Geschichte oder eine Story wäre, die zur Identifikation führt. Weil bei Identifikation geht es sehr stark um Sinnstiftung. Also ich identifiziere mich mit etwas, das Sinn stiftet. Und die Frage ist natürlich jetzt, wann stiftet denn etwas Sinn?
Und da ist aus dramaturgischer Sicht die Antwort: Etwas stiftet Sinn, wenn es eben etwas verbessert, wenn es dazu beiträgt, etwas zu verbessern im Grunde. Und das ist im Grunde leider nicht bei allen Produkten der Fall. Also Schokoriegel zum Beispiel. Außer diesem kurzen Zucker-Glücks-Kick, der auch nicht zu verachten ist, bringt ein Schokoriegel einem eigentlich nur Nachteile. Zumindest lösts keine Konflikte. Und da ist es natürlich schwer, dann eine Story dazu zu entwickeln.
Also ich muss dann eine Lifestyle Story im Grunde dazu erzählen, das heißt ich muss dem Produkt bestimmte Eigenschaften zu sprechen, die sich aus dem Produkt selbst oder aus der Verwendung des Produktes selbst, gar nicht ergeben. Und es geht hier dann sehr stark auch um Identität, um Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zu einem bestimmten Milieu. Und dieses Produkt hat mit diesem Milieu aber eigentlich gar nichts zu tun. Es wird nur so lange eben behauptet, das ist etwas damit zu tun hat, bis diese Verbindung wirklich hergestellt ist und dann kauf ich dieses Produkt und hab dann irgendwie etwas für meine Identitätsbildung getan und fühle mich einer bestimmten Gruppe zugehörig. Das ist dann im Grunde die Art von Storytelling. Aber da geht es dann nicht darum, inwiefern wird tatsächlich etwas verbessert. Inwiefern trägt das Produkt dazu bei, das Leben zu verbessern, die Gesellschaft zu verbessern.
Und das sind aber genau die Elemente, die immer am meisten Identifikation hervorrufen.
00:22:45 Karlheinz
Also das ist ja typisch in der Werbung, da versucht man ja solche Stories zu erzählen, die eigentlich mit dem Produkt gar nicht so viel zu tun haben. Das heißt, du sagst eigentlich Storytelling sollte man da anwenden wo man wirklich auf der Welt ein bisschen was verbessert.
00:23:02 Ron
Ja oder da wo was verbessert werden sollte, vielleicht auch. Also das ist, glaube ich das Warum. Ein wichtiger Punkt. Gerade wenn man jetzt auch heute wieder die die Welt anschaut und auch den öffentlichen Diskurs anschaut. Wir werden ja unwahrscheinlich stark mit Angst-Stories bombardiert. Also mit Geschichten, die von der Katastrophe erzählen und so weiter. Und was wir ja eigentlich alle wollen, ist ein gutes Leben.
Und die Frage ist, wie wollen wir in Zukunft ein gutes Leben haben, wenn wir eigentlich permanent nur Bilder vom schlechten Leben in unsere Köpfe implementiert bekommen?
Und deswegen braucht es gerade da, wo es Probleme gibt, braucht es eigentlich eben diese Sehnsucht-Stories. Um zu zeigen so kann es auch aussehen, so da sollten wir vielleicht hinkommen. So ist das Leben lebenswert und gut und schön. Und nicht irgendwie hier geht es den Bach runter und so wird es in der Katastrophe enden.
00:23:54 Karlheinz
Ein aktuelles Beispiel ist ja so die Klimakrise. Es ist ja eigentlich die Angst Story. Im Grunde genommen müssten wir die positive Story da hinstellen, weil es im Moment gerade so unabhängig von anderen Ländern mit Gas und so – wir könnten das alles alleine und so – und dann wäre es eine ganz andere Story.
00:24:15 Ron
Genau, ein sehr sehr guter Bekannter von mir ist bei Extinction Rebellion aktiv, und mit denen diskutiere ich immer darüber, weil die, die Klimaschutz-Bewegung – genau wie Populisten, das ist, eigentlich sehr interessant, die erzählen beide Angst-Stories. Und die, Klimaschutz-Bewegung – oder bei Extinction Rebellion beispielsweise steht auf der Homepage „Hallo, dein Leben sieht scheiße aus“. Das ist wahrscheinlich die die beste Zusammenfassung der Botschaft von Angst-Stories, die man sich überhaupt ausdenken kann. Und entscheidend ist die Wirkung die man damit erzielen kann mit Angst-Stories. Angst-Story ist nicht per se negativ. Sie können auch eine positive Wirkung haben. Oder beziehungsweise es gibt eigentlich 3 positive Wirkungen und 3 negative Wirkungen. Die eine positive Wirkung ist, dass sie eben, dass sie wachrütteln können – tatsächlich. Also Waldsterben im Anfang der 90er war das oder Ende der 80er – war ja auch eine Angst-Story: Unsere Wälder sterben durch den sauren Regen.
Das hat dann ja letztlich irgendwie doch auch dazu geführt, das was dagegen getan worden ist. Ozon Loch auch damals, und so weiter. Also das Wachrütteln, dann ein Problem-Bewusstsein schaffen oder erzeugen und vielleicht sogar, wenn es gut läuft, eine Verhaltens Änderung herbeiführen. Das sind eigentlich 3 mögliche positive Wirkungen, die man mit Angst-Stories erzielen kann. Die negativen Wirkungen sind allerdings, dass Menschen in die Verdrängung gehen, also dass sie den Konflikt um den es da geht, einfach verdrängen. Wenn dieses Verdrängen nicht mehr funktioniert, ihn dann verleugnen und wenn das Verleugnen nicht mehr, funktioniert gehen sie in den Widerstand.
Das ist im Grunde, genau das, was die Populisten wollen. Populisten wollen die Leute aufwiegeln und in den Widerstand führen gegen das System, gegen die Elite, gegen die da oben und so weiter und sofort. Und die Klimaschutz Bewegung will eher die 3 positiven Aspekte hervorrufen, haben aber das Problem, glaube ich und werden auch das Problem in Zukunft in noch viel größerem Maße bekommen, dass sie auch die negativen Wirkungen hervorrufen. Also dass sie möglicherweise dazu kommen, dass immer mehr Menschen, den Klimawandel oder bestimmte Aspekte des Klimawandels einfach verdrängen oder verleugnen. Weil sie eben immer nur mit Angst Stories erzählen. Sie müssen deswegen vielmehr Sehnsucht-Stories erzählen, in denen beispielsweise auch erzählt wird, wie das Leben in einer nachhaltigen Gesellschaft eigentlich aussieht.
Warum ist es denn besser als unser Leben heute zum Beispiel, das sind ja Bilder und Konzepte, die noch im Grunde komplett fehlen. Solche Sehnsucht-Stories müssen da eigentlich viel stärker entwickelt werden.
00:26:47 Karlheinz
Damit würden sie sich auch abheben von den ganz vielen negativ Nachrichten, die uns ja täglich umschwirren hier. Wenn man heute Nachrichten hört, sind es ja praktisch nur immer Negativ-Nachrichten.
00:27:00 Ron
Gut, das liegt daran auch, dass der Journalismus eben oder der konventionelle Journalismus auch genau darauf ausgerichtet ist. Es gibt auch den konstruktiven Journalismus und dem positiven Journalismus. Da ist es anders. Es gibt eine Zeitschrift die Enorm heißt. Ich mach jetzt hier mal ein bisschen Werbung, weil ich die so toll finde, die Zeitschrift. Da geht es um Nachhaltigkeit im Grunde. Und ich kann mich noch erinnern, vor einigen Jahren, als ich die zum ersten Mal las, ging es mir danach – Ich hab mich danach richtig gut gefühlt. Ich hatte danach richtig irgendwie Hoffnungen, dass wir doch noch irgendwie die Kurve kriegen und hab mir so ein bisschen den Glauben an das Gute will ich mal sagen wieder zurückgewonnen, weil in dieser Zeitschrift ständig nur Geschichten des Gelingens erzählt wurden.
Also da hat irgendjemand was gemacht, was total nachhaltig ist und so weiter und das hat super funktioniert. Und dort jemand sich was ausgedacht und da hat sich irgendwie eine Gruppe von Menschen zusammengeschlossen zu einer solidarischen Landwirtschaft und – keine Ahnung was. Das waren nur Geschichten, wo irgendwas wirklich gut gelungen ist. Und da habe ich selbst gemerkt, an meiner eigenen emotionalen Reaktion, dass mir das viel besser tut, als wenn ich Fernseh-Nachrichten gucke. Wo es immer nur eben nur um die Darstellung des Konfliktes geht. Das ist glaube ich, der große Unterschied. Also eine Story erzählt immer von einem Konflikt. Das ist ein grundlegendes Wesens-Merkmal. Ohne Konflikt gibt es keine Story. Und eine Geschichte erzählt immer von der Entstehung, von der Austragung und von der Auflösung eines Konfliktes. Und entscheidend ist die Auflösung.
Das können wir daran sehen, wenn wir einen Spielfilm gucken und der hat 90 Minuten – oder von den 90 Minuten 75 Minuten lang irgendwie brillant erzählt und die letzte Viertelstunde kackt er ab, dann gehen wir raus und sagen, es war ein schlechter Film.
In der letzten Viertelstunde wird der Konflikt eben aufgelöst. Im dritten Akt, letzte Viertelstunde, letzte 20 Minuten. Das ist der entscheidende Punkt im Storytelling es geht um die Konfliktlösung. Im Journalismus, im konventionellen Journalismus geht es um die Konflikt-Entwicklung oder um die Darstellung des Konfliktes. Aber wenn überhaupt, dann nur am Rande oder in Kommentaren oder manchmal auch in Interviews mit Expertinnen und Experten auch um mögliche Lösungen eines Konfliktes. Der Tages-Journalismus, der ist komplett fokussiert auf die Darstellung von Konflikten.
00:29:18 Karlheinz
Das klingt schon mal interessant. Sag mal, könnte man dann nicht Stories entwickeln, um ganz bewusst Dinge zu verbessern. Also die beginnen mit der heutigen Situation, und die Zukunft ist ja irgendwie unklar, aber wenn man jetzt einfach mal fiktiv in die Zukunft die Story weiter erzählt – müsste man doch damit vielleicht Leute mitreißen können: Guck mal, es gibt wirklich Wege daraus. Ist Storytelling auch was, womit man praktisch Zukunftsentwicklung so ein bisschen steuern kann?
00:29:58 Ron
Ja klar absolut. Also das sollte auch die Aufgabe von Sehnsucht-Stories sein. Prinzipiell, also eben Menschen zu motivieren. Das ist ja eine der großen und auch faszinierenden Eigenschaften von guten Stories, das sie Menschen motivieren können.
00:30:15 Karlheinz
Ja, bleiben wir nochmal ein bisschen beim Erstellen. Könnte Storytelling eine Methode für Entwickler sein, ihr nächstes Produkt zu entwickeln?
00:30:24 Ron
Ich bin mir sogar sicher, dass es das schon gibt, das da schon mit Storytellern auch zusammengearbeitet wird. Also ich weiß, dass es immer wieder auch mal gerade Science Fiction Autorinnen, Autoren werden oftmals hinzu gezogen, wenn Produkte entwickelt werden. Oder in anderen Kontexten – also es gibt es gibt es schon soweit ich weiß. Und das wäre auf alle Fälle eine gute Möglichkeit, weil man eben, wenn man eine eine Geschichte entwickelt, aber wenn man jetzt in der Gegenwart sich befindet und einen Konflikt hat, dann gibt es eben immer nur eine gewisse Anzahl von möglichen Auflösungen dieses Konfliktes und jede Auflösung quasi hat einen Handlungs-Strang oder einen Strang, der genau zu dieser Auflösung führt. Und wenn ich mir über die Auflösung Gedanken mache, also wenn ich von hinten nach vorne denke – das ist der entscheidende Aspekt in der Entwicklung einer Story, man muss von hinten nach vorne denken, von der von der Auflösung des Konfliktes an den Anfang. Und gucken welche möglichen Auflösungen gibt es und welche Wege führen zu diesen einzelnen Auflösungen. Dann kann ich bei den nächsten Ereignissen Handlungen, die jemand ausführt, kann ich immer gucken ok, das ist jetzt eine Handlung, ein Ereignis, das eher in diese Richtung zu dieser Konfliktauflösung hinführt. Und kann dann kann dann besser die Orientierung beispielsweise behalten. Und kann abschätzen ok, wir befinden uns gerade auf den Weg Richtung Auflösung A und nicht in Richtung Auflösung B. Aber eigentlich wäre B besser, dann kann man sich überlegen was zu machen, um wieder auf Richtung B zu kommen.
00:31:58 Karlheinz
Das heißt aber, du musst die Auflösung schon kennen.
00:32:02 Ron
Die möglichen Auflösungen, die möglichen Auflösungen. Also eigentlich gibt es immer im Hinblick auf die Frage „Was bekommt die Hauptfigur am Ende?“ Darum geht’s ja eigentlich, die Hauptfigur will etwas und die Frage ist was bekommt sie am Ende, gibt es eigentlich immer nur 4 Möglichkeiten, was sie bekommt: Sie bekommt das eine, das andere beides oder keines.
So, das sind eigentlich die 4 grundlegenden Möglichkeiten, wie ein Konflikt aufgelöst werden kann und die muss man sich eben, die muss man durchdenken, die kann man sich ausmalen, die kann man entwickeln und definieren und von da aus eben dann gucken den Weg rückwärts gehend zu dem Zeitpunkt, wo wir heute sind. Dann haben wir unterschiedliche Linien, unterschiedliche Pfade die wir gehen können oder die einfach die Geschichte weiter treibt, sozusagen.
00:32:54 Karlheinz
Gehst du wenn du ein Drehbuch schreibst, so von hinten nach vorn vor?
00:33:00 Ron
Immer, ja immer. Nicht nur beim Drehbuch schreiben – das mach ich ja schon lange nicht mehr, aber ja auch so, wenn ich Geschichten entwickle für Unternehmen oder wenn ich für Organisation Workshops mache, es geht immer von hinten nach vorne.
00:33:15 Karlheinz
Ron, nutzt du dein Wissen mit den dramaturgischen Fragestellungen auch für dich selber? Machst du dir damit auch klar, wie Dinge funktionieren oder wie sie in deinem Leben weitergehen sollen?
00:33:30 Ron
Ja, auf jeden Fall klar. Also ich frage mich immer wieder – meistens wenn irgendwas schief läuft oder irgendwas nicht gut läuft – also wenn ich einen Konflikt habe – dann dann frage ich mich, welche Stories gerade in meinem Leben aktiv sind oder in welchen Story ist ich mich gerade befinde. Welche Funktionen ich darin habe, ob ich hier die Hauptfigur bin oder die antagonistische Kraft, ob ich einen Verbündeter bin, ob ich ein Katalysator bin, ein Schatten, ein Schwellen-Hüter und so weiter und so fort. Also diese Fragen erst mal nach meiner eigenen Position, wer bin ich innerhalb einer Story?
Und dann eben auch was ist denn genau der Konflikt, wie ist der Konflikt entstanden? Was ist mein Ziel? Was ist meine Motivation, was sind die antagonistischen Kräfte und so weiter und so fort. Ja, manch ich schon, immer wieder. Das habe ich schon gemacht, bevor ich anfing, mich mit Storytelling zu beschäftigen und das war eigentlich auch so der Punkt, warum ich dazu gekommen bin, mich mit Storytelling zu beschäftigen. Weil ich gemerkt habe, dass man diese Werkzeuge, mit denen ich sonst arbeite, um Drehbücher zu entwickeln, oder Autorinnen Autoren dabei zu unterstützen, ihre Drehbücher zu entwickeln, das man die eben auch auf die Realität anwenden kann.
Also vielleicht ein konkretes Beispiel: Als ich mein zweites Buch schrieb, das Storytelling Handbuch, da gab es eine Situation, in der ich in meinem Arbeitszimmer saß, das war eine kleine Mansarde. Und schon eine ganze Weile auf meinem Bildschirm glotzte und irgendwie schon den ganzen Tag noch nichts mehr getippt habe. Und irgendwann sank so mein Oberkörper so langsam nach vorne, immer weiter, immer weiter, immer weiter, bis ich mit das Stirn auf der Tischplatte zum Liegen kam. Und in dem Moment dachte ich mir, das wars, ich schaffe es nicht, dieses Buch zu schreiben. Ich bin gescheitert, und ich muss jetzt dem Verleger eine Email schreiben und ihm sagen, dass ich leider nichts abliefern kann. Das gibt Ärger, aber es geht nicht anders. So und dann war es erstmal – das war ganz interessant – ganz still in meinem Kopf. Und irgendwie fühlte sich das total gut an, weil ich mich wirklich ziemlich lange gequält hatte und jetzt aber eine Entscheidung getroffen hatte.
Und auf einmal dachte ich mir, Moment, in meinem Buch versuche ich zu erklären, wie man die Werkzeuge der Dramaturgie auf die Wirklichkeit anwendet. Wenn ich das jetzt mache, was heißt das denn, wo in meiner Story des Buches oder mit dem dramatischen Ziel, eben dieses Buch zu schreiben, befinde ich mich gerade?
Und da gab es im Grunde 2 Möglichkeiten: Ich befinde mich kurz vorm Höhepunkt, also am Ende der Geschichte, in dem der Konflikt endgültig aufgelöst wird und in dem sich entscheidet, ob die Hauptfigur, also in dem Falle ich, mein Ziel für immer erreichen oder für immer verliere.
So und dieser Höhepunkt wäre damals eingetreten, wenn ich dem Verleger eine Email geschrieben hätte, in der ich ihm sage, ich liefer nichts ab. Dann wäre die Story vorbei gewesen. Oder – das ist die Alternative, nämlich am sogenannten Tiefpunkt – ganz entscheidendes Element in einer Geschichte. Der Tiefpunkt, der besteht aus 3 Elementen insgesamt. Nämlich dem symbolischen Tod, das ist ein Moment, in dem es so aussieht, als ob die Hauptfigur ihr Ziel nie mehr erreichen wird. Also in dem es so aussieht, als ob alles verloren wäre. Beispielsweise weil die Hauptfigur aufgibt, das was ich ja gerade gemacht habe, damals.
Dann gibt es die symbolische Wiedergeburt. Das ist ein Moment, in dem die Hauptfigur dann doch nicht aufgibt, sondern sich aufrafft und weiterkämpft.
Und es gibt als drittes Element den Grund, warum sie doch weitermacht und nicht aufgibt.
Und in dieser Situation wurde mir klar, dass ich derjenige bin, der entscheidet, ob es der Höhepunkt oder Tiefpunkt meiner Story ist, in dem ich mich gerade befinde. Und da ich eben schon ziemlich viel Zeit und Energie in das Buch investiert hatte, und es auch unbedingt schreiben wollte, entschied ich mich für den Tiefpunkt und dachte eben darüber nach, was hat mich eigentlich zu diesem symbolischen Tod geführt? Was war denn, was habe ich denn falsch gemacht, das ist so in die Krise gekommen bin und sogar aufgegeben habe, kurzfristig. Und ich hab natürlich darüber nachgedacht, wie ich die symbolische Wiedergeburt herbeiführen kann.
So und das hat tatsächlich geklappt. Ich konnte irgendwann weiterschreiben und das Buch ist am Ende auch erschienen. Zwar nicht ganz genau so wie ich wollte, aber doch so, dass ich einigermaßen damit zufrieden sein kann.
Das heißt, um es vielleicht zusammenzufassen, aber auch zugespitzt zu sagen, ohne Dramaturgie hätte ich dieses Buch nicht zu Ende geschrieben. Das war genau der entscheidende Punkt, der mich dazu gebracht hat, mich selbst zu verorten und festzustellen, was eigentlich gerade los ist. Und mich dann eben auch wieder da quasi rauszuziehen am eigenen Schopfe, wie man immer so schön sagt.
00:37:44 Karlheinz
Oh ja Ron, ich glaub alle, die uns zuhören, wollen, jetzt Storytelling lernen, wenn man sich selber damit auch so gut helfen kann.
Was müsste man tun oder was würdest du denen empfehlen? Wie steigt man am besten ein?
00:38:03 Ron
Also ich glaube, hilfreich ist es, wenn man auf alle Fälle schon mal ganz gerne Geschichten rezipiert, jetzt in Romane oder oder Filme guckt und so weiter. Wenn man da schon gar kein Interesse daran hat, dann ist es wahrscheinlich schwer, das wirklich auch zu lernen. Aber im Grunde ist es so, dass der erste Schritt immer der ist, sich erstmal das Wissen anzueignen, mit welchen Werkzeugen man Geschichten baut. Wie diese Werkzeuge funktionieren und wie sie miteinander zusammenhängen. Also die Werkzeuge hängen immer miteinander zusammen. Das dramatische Ziel der Hauptfigur beispielsweise, hat sehr viel mit dem kognitiven Thema der Geschichte zu tun. Ihre Motivation hat sehr viel mit dem emotionalen Thema der Geschichte zu tun, und so weiter und so fort. Das muss man erstmal wissen, dass ist die Grundlage, ist die reine, die schiere Theorie. Entscheidend aber ist, eben die Erfahrungen zu sammeln. Die Erfahrung in der Anwendung dieser Werkzeuge zu sammeln. Und da ist aus meiner Sicht die beste Möglichkeit erstmal, in die Analyse zu gehen. Das heißt Filme zu analysieren, Romane zu analysieren. Romane sind manchmal ein bisschen komplexer, ein bisschen schwieriger als Filme oder eben auch Artikel, in denen eine Story erzählt wird oder eben auch irgendwie aktuelle Konflikte in der Gesellschaft und der Politik, im eigenen Leben. Einfach diese Werkzeuge immer wieder anwenden. Also diese Fragen immer wieder anwenden, um Erfahrungen zu sammeln. Und dann, wenn man Erfahrung gesammelt hat, dann macht es auch Sinn für mich, wenn man anfängt seine eigene Geschichte zu entwickeln. Das kann man parallel schon machen, dazu. Aber wenn ich ohne die Erfahrung, die ich durch die Analyse sammeln kann, anfange sofort nachdem ich weiß, welche Werkzeuge es gibt, meine eigene Geschichte zu entwickeln, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass ich irgendwann nicht mehr weiterkomme, und irgendwo hängen bleibe und frustriert bin. Deswegen ist für mich irgendwie der beste Weg, tatsächlich die Erfahrungen zu sammeln, die Analyse. In die Analyse zu gehen und dann, weil man dann versteht, wie die Werkzeuge wirklich nochmal funktionieren und wie andere, die das offensichtlich ganz gut können – sonst wäre ihr Drehbuch nicht verfilmt worden oder der Roman auch nicht veröffentlicht worden – wie die das gemacht haben. Aber im Grunde wie in jeder anderen Kunstform auch. Auch in der Musik spiele ich ja erstmal, die Großen, die Guten nach, bevor ich selbst anfange zu komponieren.
Also dieses Nachmachen ist da ganz Wichtig. Im Grund ist es so ein Scaffolding Prozess. also zuerst anderen zuschauen, wie sie es machen in der Analyse, dann nachmachen, und dann selbst machen. So die 3 Schritte und wie man die Werkzeuge – da gibt es viele Bücher, viele Kurse. Genau da gibt es viele Möglichkeiten, wie man sich diese Werkzeuge aneignen kann.
00:40:37 Karlheinz
Ja, und ein entscheidendes Werkzeug sind deine dramaturgischen Fragen. Vermutlich findet man die in einem seiner Bücher?
00:40:46 Ron
Ja, ja, darum geht es eigentlich in den Büchern. Das erste Buch das Fiktionale Schreiben, das schon 2006 erschien, das ist vergriffen. Da geht es auch um diese Fragen und im Storytelling Handbuch, da sind diese Fragen immer, also seitenweise im Grunde aufgelistet. Da geht es im ersten Teil des Buches – ich glaube, das ist ein Drittel, ja ich glaube ein Drittel, erkläre ich erstmal Dramaturgie wie Geschichten funktionieren und so weiter. Und da sind eben auch diese Fragen immer mit dabei. Und im zweiten Teil, im Hauptteil geht es dann eben darum, wie diese Fragen im Journalismus angewendet werden, wie sie im Unternehmen angewendet werden, und wie sie in der Politik angewendet werden können. Das sind so die 3, und daneben ganz viele Beispiele, die ich da analysiere. Also genau, da sind diese Fragen drinnen. Aber die gibt es auch auf filmschreiben.de – das hast du ja vorhin schon erwähnt, der Blog, die Community. Da habe ich ganz viele Artikel wo es auch um diese Fragen geht.
Die Fragen sind eigentlich das A und das O, ja.
00:41:54 Karlheinz
Na wunderbar. Ja Ron, ich glaub, du hast so viele interessante Sachen erzählt. Wenn ich dich so fragen würde, kannst du nochmal kurz zusammenfassen was aus deiner Sicht das Storytelling so besonders macht?
00:42:06 Ron
Also zum einen ist eben die Möglichkeit, tatsächlich in Kontakt mit anderen Menschen zu treten und Beziehungen aufzubauen. Das halte ich tatsächlich für eine der großen Stärken von Storytelling. Dann gibt es aber – das ist ein Mittel quasi dazu – auch noch den Umstand, dass ich abstrakte Zusammenhänge sehr konkret darstellen kann. Das sehe ich als einen ganz wesentlichen Vorteil von Storytelling an. Ich habe etwas sehr Abstraktes und ich muss aber dieses Abstrakte, um eine Geschichte zu erzählen, runter brechen auf eine konkrete Ebene, auf eine konkrete Person, die einen konkreten Konflikt hat, usw. Und dadurch werden diese abstrakten Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Aspekt. Dann kann ich natürlich auch diese eben sachlichen und eher trockenen Inhalte, kann ich mit Lebendigkeit und Emotionalität aufladen. Und ich kann auch sehr komplexe Zusammenhänge verständlich machen und handhabbar machen.
Das sind, finde ich, so die die wichtigsten Eigenschaften, die wichtigsten Vorteile, die einem Storytelling bietet. Und warum es sich lohnt, Storytelling zu betreiben: Aus meiner Sicht einfach, weil es Spaß macht, dramaturgisch zu denken. Also das ist – ob man nun fiktional oder nonfiktional arbeitet – in Geschichten zu denken, Geschichten auszudenken, mit diesen Werkzeugen zu arbeiten. Das ist etwas, was einem unwahrscheinlich viel Spaß macht. Beziehungsweise man kann daran auch erkennen, ob Storytelling die richtige Methode für einen ist.
Wenn es einem nämlich keinen Spaß macht, dann ist es nicht die richtige Methode. Das gehört einfach mit dazu, wie auch der Spaß. Weil es eben oftmals nicht immerzu – gerade am Anfang – nicht immer zu guten Ergebnissen führt . Geschichten zu erzählen, ist immer auch mit viel Frust verbunden, das gehört einfach dazu. Man scheitert irgendwie sehr sehr oft, und wenn man da nicht wirklich Spaß dran hat und auch keine Leidenschaft dafür hat, dann sollte man sich mit etwas Anderem beschäftigen, finde ich immer.
Das ist irgendwie ja bei mir zum Beispiel: Ich mach das jetzt seit über 20 Jahren und ich bin immer noch total fasziniert. Es gibt nichts anderes in meinem Leben, an dem ich so lange dran geblieben bin. Und ich entdecke immer wieder noch neue Aspekte in Geschichten, in der Dramaturgie und neue Zusammenhänge. Und das ist so dieses ganze System „Dramaturgie“ für mich, dramaturgisches Denken. Es tatsächlich eine Denkweise, ein Mindset, das sich immer weiterentwickelt hat. Das hoch dynamisch ist, das sehr flexibel ist, dass man immer wieder in ganz neuen Kontexten anwenden kann. Und auch das ist einer der großen Vorteile, immer zuverlässig zu bestimmten Erkenntnissen führt. Also man kann eben Zusammenhänge erkennen. Man kann bestimmte Konflikte und Konflikt-Ursachen besser verstehen. Man kann Ziele und Motivation von Menschen besser nachvollziehen. Und so weiter und so fort.
Und man kann eben auch Konflikt-Lösungen damit entwickeln. Das ist eben tatsächlich einer der ganz großen Stärken von Storytelling.
00:44:56 Karlheinz
Also ich bin ganz fasziniert. Auch dieses Stichwort „Dramaturgisches Mindset“ ist ein schönes Schlusswort. Ron, dir einen ganz herzlichen Dank für die vielen Informationen. Ich bin ganz sicher, dass ganz viele ganz begeistert dir auch zuhören, wie ich das eben getan habe. Schönen Dank für dieses Interview!
00:45:18 Ron
Das würde mich sehr freuen. Danke dir ganz herzlich für die Einladung.