Die schon achte Konferenz des Inverted Classroom Pioniers Prof. Jürgen Handke fand voraussichtlich zum letzten Mal in Marburg statt: Prof. Handke geht in Pension. Ein Grund mehr, noch einmal intensiv reinzuhören, was aus dem Flipped- (oder Inverted-)Classroom Prinzip im deutschsprachigen Raum geworden ist.
Die Interviews im Podcast:
01:56 Humanoider Roboter YUKI eröffnet
04:31 Andreas Wittke zu Digitalisierung der Hochschulen
07:19 Andreas Wittke zu DigiCert
08:22 Andres Wittke erklärt analoge und digitale Lehre
12:10 Kritische Studentin zum Flipped Classroom Modell
13:34 2 vom Inverted Classroom überzeugte Studentinnen
23:00 Jürgen Handke zur Entwicklung des Inverted Classsroom in Marburg
35:59 Martin Ebner zu OER
39:13 Udo Bleimann zu Learning by Contribution
42:30 Sevgi Isaak und Petra Danielczyk zu Überzeugung von Lehrenden
45:53 Alexander Zielonka zu Erfahrungen mit dem Inverted Classroom
50:54 Zwei Studentinnen zu Roboter zum Lernen
52:49 Katharina Weber und Patrick Heinsch zum Einsatz von Robotern in der Lehre in Marburg
8. ICM-Konferenz in Marburg „Inverted Classroom: The Next Stage“
Inverted Classroom oder auch Flipped Classroom: Diese Begriffe stehen für ein gar nicht mehr so neues Lehr- und Lernkonzept. Es geht dabei um eine grundsätzliche Änderung des Lehrens, und eigentlich um eine andere innere Haltung der ehemals Lehrenden, die sich hier zu Lernbegleitern machen.
Jürgen Handke, Professor am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Marburg, hat als einer der ersten in Deutschland mit dem Inverted Classroom für seine Vorlesungen experimentiert. Jörn Loviscach und Christian Spannagel fallen mir dazu als Pioniere des Flipped Classroom in Deutschland ebenfalls ein. Grund genug für eine Konferenz dachte sich Jürgen Handke 2012: „Inverted Classroom Modell“ war der Titel dieser ersten wissenschaftlichen Tagung in Marburg. Und gerade gab es die 8. ICM-Konferenz – ebenfalls in Marburg, von der ich hier berichten möchte.
Die Marburger-Uni-Gebäude erinnern eher an meine Studienzeit in den 70er Jahren. Schon sehr lang nicht mehr renovierte Hochschultürme mindern schon von weitem die Erwartungen an zeitgemäße Lehre. Die Konferenz-Eröffnung fand auch in einem klassischen Hörsaal statt,
mit Holz-Klappsitzen in langen Reihen und klappbaren Schreibplatten vor sich. Der Raum war aber voll besetzt für diese wissenschaftliche Konferenz zu innovativen Lehr- und Lernformen.
Dann vergaß hier jeder jede Kritik: Prof. Handke spielte zur Eröffnung auf der Querflöte – und sang auch noch vor dem verdutzten Publikum. Innovatoren sind halt Musterbrecher!
Vorn steht Pepper, ein kindsgroßer Roboter mit großen Augen. Ganz selbstverständlich gibt er zu Beginn der Konferenz ein paar Aufgaben.
YUKI ist einer von 3 Robotern, mit denen Jürgen Handke und sein Team hier experimentieren. Und: Die Roboter müssen offenbar auch mal schlafen: Ausgeschaltet senkt sich der Kopf langsam auf die Brust. In dem Zustand möchte man kaum stören.
Die erste Keynote spricht Andreas Wittke von oncampus zur Digitalisierung von Hochschulen:
- MOOCs haben eine neue Perspektive auf Lernen gezeigt. Zum Beispiel Udemy ist aus den MOOCs schlau geworden: Heute lernen dort 30 Millionen Teilnehmer!
- Finnland will, dass 1% der Bevölkerung den KI-MOOC mitmacht und sich mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzt. Finnland hat etwa so viele Einwohner wie Hessen.
- Auf OnCampus gibt es heute 110 kostenfreie Kurse. Aber 5495 Kurse insgesamt mit 126.500 Lernenden und 8522 Videos. Sie nennen es heute „World of Learning“. Deshalb neuer Name, statt mooin jetzt oncampus.
- oncampus bietet so etwas für Hochschulen, wie Amazon für Einzelhändler: Eine gemeinsame Plattform mit Services.
- Oncampus erhält heute 35% aller Anfragen per Chat auf der Homepage. Die werden von einem Bot zu 89% erfolgreich beantwortet!
- Andreas Wittke sagt, wir brauchen eigentlich gar nicht viel Experten für digitale Bildung in Deutschland – wenn man sich zusammentun würde. Dann reicht eine Plattform für alle 400 Hochschulen. Die müssen nicht alles selber probieren.
- Oncampus wächst ziemlich kontinuierlich um 1000 neue User je Monat. D.h, sie verleihen je Tag 200 Badges, vollautomatisch. Mit 200 täglich, ist die Verwaltung der vielen Badges ein Problem. In Hochschulen müssen die 40 Jahre aufgehoben werden. Das geht bisher nur mit Papier.
- Ziel ist, dass Zertifikate jederzeit im Handy vorzeigbar sind. Schlesig Holstein plant eine Ablage in der Blockchain. Dafür ist DigiCert gegründet, soll im März 2019 starten. Damit wird ein erster Online-Zertifikats-Standard entstehen.
Und dann hat uns Andreas Wittke noch folgenden Satz mit auf den Weg gegeben:
In der analogen Lehre kommen die Lernenden zum Unterricht. In der digitalen Lehre kommt der Unterricht zu den Lernenden
Später in einem Workshop sagt Andreas Wittke:
Wer sich über Zukunft der Bildung informieren will, darf nicht bei den Bildungswissenschaftlern suchen. Nur in anderen Branchen gibt es Anregungen.
Und: „Mein Lernen geht immer nur über das Handy“ und „Mein Lernnetzwerk gibt es nur online.“
Die zweite Keynote gab Alexander Schnücker, Hochschul-Didaktik der Uni Siegen, zu OER in der Hochschullehre.
- Er sieht Digitalisierung in erster Linie als eine soziale Innovation, und nicht als eine technische.
- Auch in der Hochschullehre haben wir bisher das Prinzip „one to many“. In der Gesellschaft sind wir schon bei „many to many“. Wir können also das Lehren auf viele verteilen.
- Eine ausgearbeitete Vorlesung war bisher ein Produkt – wie beim Brockhaus damals. Wikipedia ist eher ein Prozess, durch die ständige Aktualisierung. So müsste Lehre auch sein.
- OER sieht er als einen zutiefst digitalen Vorgang: Content wird zu social Content. Durch die CC-Lizenz wird es vom Produkt zu einem Prozess!
- OER wirken dann auch aus der Hochschule in die Gesellschaft hinein. Also nicht nur Wissenschaftler sind dann die Zielgruppe.
- Noch ein interessanter Gedanke: An der Uni arbeiten viele mit Zeitverträgen, wechseln danach die Stadt und bekommen neue Kontakte. Würden die alle ihr (soziales) Netzwerk pflegen, wäre das eine Riesenquelle für wissenschaftliche Entwicklung.
- @juergen_handke berichtet dazu: Seit die 600 Youtube-Videos von ihm mit CC-Lizenz auf Youtube stehen, ist seine internationale Anerkennung explodiert. In China werden seine Videos mit chinesischen Schriftzeichen versehen verwendet.
Reale „Inverted Vorlesung“ von Jürgen Handke
Jürgen Handke hat die Präsenzphase seiner „Flipped-Vorlesung“ für uns Konferenzteilnehmer geöffnet. Studenten sitzen vorn – aber nur in jeder zweiten Reihe. Konferenz-Teilnehmer sitzen hinten. Wer als Lernbegleiter persönlich helfen will, muss zu den Studierenden hinkommen können. Die freien Reihen werden so zum notwendigen Gang in einem klassischen Hörsaal.
Vorab erklärt und Jürgen Handke noch, dass seine Studierenden immer die Wahl haben. Ob sie sich die bereitgestellten ‚Videos ansehen, oder die Texte lesen, oder es ganz anders machen – sie müssen nur die Tests bestehen. Und bei den Tests dürfen sie auch das Internet nutzen.
Die Studierenden haben alle ihre eigenen Laptops dabei. BYOD ist hier ganz selbstverständlich. YUKI steht wieder vorn, begrüßt die Studierenden und vergibt gleich die ersten Testfragen und Aufgaben. Eine Stoff-Wiederholung findet nicht statt.
Die Aufgaben lösen die Studierenden in kleinen Gruppen selbstorganisiert gemeinsam. Es gibt keine Gruppeneinteilung durch den Lehrenden. Jürgen Handke steht bereit für Fragen und hilft auch mal im direkten Gespräch. Man redet zurückhaltend leise. Fast Bibliotheks-Atmosphäre!
Abschließend gibt Jürgen Handke noch ein paar Tipps:
- Der Ideal-Schlüssel für den Inverted Classroom liegt bei 40 Studierenden und einem Lehrenden.
- Der Inverted Classroom ist eher etwas für ältere Lehrende. Man braucht Lehr-Erfahrung für diese neue Rolle.
- Alles Material auf der Plattform bereitstellen. Links nach draußen bergen die Gefahr, dass sich Studierende dort verlieren und nicht wieder zurückkommen.
Sein Resumee:
„Ich habe eine unglaubliche Lehrbefriedigung durch den Inverted Classroom erfahren! Komme jetzt mit jedem Studenten als Lernbegleiter ins Gespräch, was in der klassischen Vorlesung nicht passiert.“
Im Interview berichtet Jürgen Handke, dass niemand seiner Kollegen die jahrelange Aufbauarbeit fortführen will.
Es ist schon traurig, dass an der Uni Marburg niemand diese jahrelange Aufbauarbeit einer innovativen Lehr- und Lernform fortführen will. Und warum sich von den Erziehungswissenschaftlern niemand dafür interessiert, wohl aber viele andere Disziplinen, ist mehr als unverständlich.
Open Educational Ressources – OER
Wer Material zum selbständigen Lernen im Internet vorab bereitstellt, muss sich zwangsläufig mit dem Urheberrecht auseinandersetzen. Damit kommt man schnell zu Lizenzfragen und auch zu den Creative Commons Lizenzen. So geht jedenfalls Martin Ebner vor, wenn er von Open Educational Resources überzeugen will.
- Seine Workshop-Einstiegsfrage lautete: „Dürfen Sie Vorlesungsunterlagen Ihres Vorgängers überarbeiten und nutzen?“ Nein, nur wenn der schriftlich zugestimmt hat. Auch Studierende dürfen Lehr-Unterlagen ohne Lizenzangaben aus dem LMS nicht an andere Studierende versenden. Grund: Wir haben in Europa das Urheberrecht von Geburt an. In den USA ist es nicht so: Nur wenn jemand das Copyright-Zeichen draufsetzt, hat er das Urheberrecht.
- Um dieses aufwändige Um-Erlaubnis-Bitten zu vermeiden, sind die Creative Commons-Lizenzen entstanden. 3 offene Lizenzen gibt es dort: CC 0 (gemeinfrei), CC BY (beliebige Verwendung mit Namensnennung) und CC BY SA (beliebige Verwendung mit Namensnennung und nur unter gleicher Lizenz weiterverwendbar).
- Nur mit einer dieser CC-Lizenzen kann man von wiederverwendbarem OER-Material sprechen. Aber OER hat nichts mit der Digitalisierung zu tun: Jedes Buch kann man unter eine CC-Lizenz stellen.
- Übrigens: Die Standard-Youtube-Lizenz erlaubt keine öffentliche Vorführung. Vorlesung ist immer eine öffentliche Vorführung. Seminar nicht. Youtube erlaubt aber auch die CC BY Lizenz. Dann darf man das in der Vorlesung zeigen, muss aber den Namen nennen!
- Die CC 0 Lizenz hatte Pixabay bis vor kurzem. Dann gab es Klone, die die Bilder nahmen und verkauften. Deshalb jetzt keine CC 0 Lizenz mehr, sondern spezielle Pixabay-Lizenz. Für uns ändert sich aber nichts.
- Eine letzte Empfehlung von Martin Ebner: Die Lizenzierung immer direkt ans Bild oder den Ausschnitt hängen, nicht ans Ende. Dann besteht weniger Gefahr, dass bei der Wiederverwendung die letzte Folie verschwindet!
Erfahrene Flipped Classroom Anwender waren ja genügend nach Marburg gekommen. Mit einigen habe ich Interviews führen können.
Prof. Bleimann von der Hochschule Darmstadt hat das Inverted Classroom-Konzept ganz anders umgesetzt. Er stellt gar keinen Lernstoff mehr zur Verfügung. Den sollen sich die Lernenden selbst vorab erarbeiten.
Fast alle Hochschulen bemühen sich, die Lehre innovativer zu gestalten. Dafür leistet man sich in der Regel Experten, die Lehrende beraten und zu neuen Lehrformen überzeugen sollen. Zwei haben hier kurz berichtet, wie sie vorgehen. Auf die Frage, wie Lehrende reagieren, wenn man ihnen das Inverted Classroom Modell vorschlägt sagt Sevgi Issac und Petra Danielczyk.
Als Lehrender hat auch Prof. Alexander Zielonka von der Hochschule Fresenius in Wiesbaden, Inverted Classroom-Erfahrungen.
Roboter in der Lehre
YUKI, der nette Roboter begleitete uns während der ganzen Konferenz. Und natürlich wollte ich ein wenig hören, wie der so ankommt und wie er eingesetzt wird. Zunächst die Frage an 2 Studentinnen: Wie hilft Ihnen der Roboter beim Lernen?
Katharina Weber und Patrick Heinsch untersuchen in der Uni Marburg den Einsatz in der Lehre mit den drei Robotern:
Natürlich gäbe es noch viel mehr zu berichten von der ICM 2019 in Marburg. Zum Beispiel, dass diese Konferenz als „Inverted Classroom and Beyond 2020“ am 11. und 12. Februar 2020 in St. Gallen fortgesetzt wird.
Die Keynotes der ICM8 wurden aufgezeichnet. Hier die Youtube ICM8-Playlist.