Der neue Dreiklang des Lernens: Wie KI uns hilft, alte Muster zu durchbrechen

Der Juni-Termin unseres CLCLunch&Learn bot spannende Einblicke in die Zukunft des Lernens. Wir hatten Werner Sauter und Daniel Stoller-Schai als Impulsgeber zu Gast. Ihr Thema: „Selbstorganisiertes, dialogisches Lernen mit generativer KI“, ein Thema, zu dem die beiden ein aktuelles Buch (Leseprobe) (Prompt Library) veröffentlicht haben. Es ging darum, wie sich durch den gezielten Einsatz generativer KI neue Dimensionen des Lernens erschließen lassen.

Die Diskussion um zukunftsfähige Lernkonzepte scheint mit der Integration generativer KI einen Paradigmenwechsel zu erleben. Im Zentrum dieses Wandels stehen fünf miteinander verknüpfte Schlüsselideen: Future Learning, dialogisches Lernen, selbstorganisiertes Lernen, personalisierte Lernpfade und eine neuartige Didaktik der Singularität. Diese Konzepte rahmen ein Verständnis von Lernen, das nicht mehr auf Vorratswissen beruht, sondern auf situativer Handlungskompetenz, individueller Relevanz und ko-kreativem Dialog. Dieser Wandel betrifft Schulen, Hochschulen, Unternehmen – und vor allem unsere gesamte Haltung gegenüber dem Lernen.

Future Learning

Future Learning beschreibt eine Lernarchitektur, in der Arbeiten und Lernen zunehmend verschmelzen. Es basiert auf drei Säulen:

  • Individuelle Werte- und Kompetenzziele als Ausgangspunkt der Lernprozesse,
  • selbstorganisiertes, KI-unterstütztes Lernen am Arbeitsplatz, und
  • soziales, kollaboratives Lernen in Gemeinschaften.

Die Lernenden stehen dabei im Zentrum – nicht die Inhalte. Wissen und Qualifikation gelten nicht mehr als Ziel, sondern als Voraussetzung, um in neuen Situationen kompetent handeln zu können.

Daniel Stoller-Schai und Werner Sauter führten dazu den Dreiklang des Lernens ein:

  • Lernen mit sich selbst: Introspektion, Selbstreflexion, digitales Journaling,
  • Lernen mit KI: adaptive Dialoge, individuelle Prompting-Strategien,
  • Lernen mit anderen: Peer-Learning, kollaborative Lernräume, moderierte Zirkel.
Quelle: Sauter / Stoller-Schai

Dieser Dreiklang erweitert das klassische Bild des Lernens um die KI als neuen Lernpartner und differenziert Lernbeziehungen entlang ihrer sozialen und kognitiven Tiefenstruktur.

Dialogisches Lernen

Angelehnt an sokratische Praktiken betont dialogisches Lernen die Erkenntnisgewinnung durch gezielte Fragen, Austausch und gemeinsame Bedeutungsbildung. Generative KI wird hier nicht als Antwortgeber genutzt, sondern als dialogischer Resonanzraum, der zur Reflexion, Perspektivübernahme und Vertiefung einlädt. Ziel ist kein reines „Lösungswissen“, sondern Erkenntnisgewinn durch Prozess.

Selbstorganisiertes Lernen

Statt zentraler Curricula rücken individuelle Lernpfade in den Fokus. Selbstorganisiertes Lernen basiert auf:

  • intrinsischer Motivation,
  • Werteorientierung,
  • individueller Zieldefinition,
  • kompetenzbasierter Diagnostik.

Lernprozesse werden nicht mehr für alle gleich geplant, sondern ermöglichen es Lernenden, die Verantwortung für ihren individuellen Weg zu übernehmen. Dabei werden sie durch KI-basierte Begleitung unterstützt.

Personalisierten Lernpfade

Statt standardisierter Curricula rückt die Frage in den Vordergrund: Was braucht der Lernende in seiner beruflichen Praxis? Dies umfasst:

  • Skills-Diagnostik und Werteanalysen ersetzen Einheitsziele,
  • Lernpfade werden auf Basis persönlicher Lernziele, Lerntypen und Tempi gestaltet,
  • Lernen wird „on demand“ – situativ, adaptiv, integriert in reale Arbeitssituationen.
Quelle: Sauter / Stoller-Schai

Singularitätsdidaktik

Diese Weiterentwicklung der Ermöglichungsdidaktik fordert: Das Lernsystem muss sich dem Lernenden anpassen – nicht umgekehrt. Lernen wird dabei als sehr individueller Prozess verstanden, bei dem Technologie, Inhalte, Lernmethoden und soziale Formate in Echtzeit auf das Subjekt reagieren müssen.

KI als Enabler der Lerntransformation

Diese Konzepte markieren einen tiefgreifenden Umbruch im Lernen: Weg vom belehrenden Vermittlungsmodell, hin zu einem adaptiven, dialogischen und wertebasierten Lernverständnis. Die Rolle der KI besteht nicht in der Automatisierung des Lehrens, sondern darin, eine neue Lernkultur zu ermöglichen, in der Lernen situativ, selbstverantwortlich und zutiefst menschlich wird – gerade weil es durch KI unterstützt wird:

Lernen wird nicht mehr als rezeptive Aufnahme von Wissen verstanden, sondern als aktiver, dialogischer, selbstverantwortlicher Prozess. Die Lernenden werden zu Ko-Produzenten ihrer Entwicklung, KI wird zur Partnerin. An die Stelle des Lernens von Inhalten tritt die Entwicklung von:

  • Handlungsfähigkeit, also Kompetenzen zur Problemlösung in neuen Kontexten,
  • Werten, die das Handeln orientieren,
  • Selbstlernkompetenz, um lebenslang adaptiv zu bleiben.

Kompetenzziele stehen dabei über Qualifikation und Wissen – nicht umgekehrt. Wissen ist Mittel zum Zweck, nicht mehr Ziel an sich.

Quelle: Sauter / Stoller-Schai

Die Rolle der KI liegt dabei nicht in der Automatisierung von Lehrprozessen, sondern in der Ermöglichung neuer Lernformen:

  • KI ersetzt nicht die Lehrenden, sondern erweitert sie um eine dialogische Komponente,
  • sie ermöglicht situatives Lernen direkt am Arbeitsplatz,
  • KI-basierte Systeme unterstützen Reflexion, individualisierte Lernpfade, Feedback und Transfer.

Die technologische Transformation ermöglicht eine didaktische Neuausrichtung: weg von Einheitlichkeit, hin zu Individualisierung und Selbstorganisation.

Aus der Diskussion der Lunch&Learn-Session

Durch diese Transformation entstehen Spannungsfelder. Das wurde auch in der Diskussion im Rahmen der Lunch-&-Learn-Session deutlich: Die Einführung KI-gestützter Lernformate wirft nicht nur technische und didaktische, sondern auch kulturelle, psychologische sowie ethische Fragen auf. Hier einige Themen aus der Diskussion:

Ist KI wirklich ein „Dialogpartner“?

Ein zentraler Kritikpunkt betrifft die Qualität des Dialogs mit KI. Eine Teilnehmerin brachte das Thema in der Diskussion auf den Punkt:

„KI kann auf Spracheingaben reagieren – aber ist das ein Dialog im humanistischen Sinne?“

Dialog – insbesondere sokratischer Dialog – lebt von Gegenseitigkeit, Perspektivwechsel, Unvorhersehbarkeit. KI hingegen antwortet statistisch, nicht empathisch. Die Gefahr einer Anthropomorphisierung liegt nahe: Lernende könnten die Maschine als gleichwertiges Gegenüber betrachten, obwohl kritisches Denken und emotionale Resonanz fehlen.

Trotz der einzigartigen menschlichen Dimension der Kommunikation, bei der das Bewusstsein für die Emotionen des Gegenübers eine Rolle spielt, ist die Vermenschlichung von KI in bestimmten Bereichen bereits weit fortgeschritten. Es wird jedoch auch gesehen, dass konstruktivistisches Lernen mit KI möglich ist, da die von der KI generierten Antworten die Perspektive der Lernenden verändern und erweitern können.

Generationenunterschiede: Niedrigere Hürden – flacheres Lernen?

Beobachtungen aus der Praxis zeigen: Junge Lernende, die digital affin und KI-erfahren sind, nutzen Chatbots wie ChatGPT ganz selbstverständlich als Lernhilfe. So berichtet etwa ein 17-jähriger Auszubildender, er habe die KI als „Kollegen“ eingesetzt, um ein komplexes Thema besser zu verstehen.

Diese Niedrigschwelligkeit ist einerseits ein Vorteil – Lernbarrieren sinken. Andererseits stellt sich die Frage:

  • Fördert das die Bildungstiefe – oder nur Problemlösung auf Knopfdruck?
  • Wird Lernen zur reinen Ergebnisorientierung?

Eine kritische Frage war:

„Wollen junge Menschen überhaupt noch lernen – oder nur Probleme gelöst bekommen?“

Der Begriff „Lernen“ muss neu gerahmt werden

Ein enges Lernverständnis führt häufig zu Missverständnissen:

  • Lernen als Konsum von Wissen,
  • Lernen als Prüfungsvorbereitung.

Werner Sauter und Daniel Stoller-Schai vertreten hingegen ein erweitertes Verständnis:

  • Lernen = Entwicklung von Handlungsfähigkeit, Haltung und Werten,
  • Lernen = Problemlösen in realen Kontexten.

Der Einwand lautet daher:

„Beim Problemlösen lernen wir ohnehin – ob wir wollen oder nicht.“

Entfremdung durch Bevormundung?

Ein weiterer kritischer Aspekt: Wenn KI zu stark vereinfacht, entlastet und automatisiert, könnte sie zu einer didaktischen Bevormundung führen – vergleichbar mit der Onboard-Diagnose in der Automobilbranche, die laut einem Teilnehmer im Extremfall nur „trainierte Affen“ hervorbringen kann.

Die Forderung:

„KI muss Menschen wieder zum Denken anregen – nicht vom Denken entlasten.“

Technik ersetzt keine Lernkultur

Ein wiederkehrendes Thema: Technologie kann Lernprozesse anregen – aber nicht verankern.
Ohne kulturellen Wandel wird KI ein isoliertes Werkzeug bleiben. Das zeigt sich etwa daran, dass viele Bildungseinrichtungen (von Schulen über Hochschulen bis hin zu Weiterbildungseinrichtungen) äußerlich modern wirken, aber didaktisch im 20. Jahrhundert verharren:

Die Lernräume sehen aus „wie 1950“ – trotz KI-Nutzung.

Lernen neu denken –Die Zukunft des Lernens gestalten!

Wir stehen an einem Wendepunkt: Lernen ist nicht länger das, was im Seminarraum passiert oder in Curricula festgelegt wird. Lernen ist das, was geschieht, wenn Menschen sich mit realen Herausforderungen auseinandersetzen – unterstützt durch Technologie, inspiriert durch den Dialog, getragen von Selbstverantwortung:

Generative KI ist kein Ersatz für Bildung – sondern ein Katalysator für eine neue Lernkultur.

Input von Teilnehmenden aus dem Chat

Eine Reihe von spannenden Informationen, die im Chat zur Veranstaltung geteilt wurden, sind hier zusammengefasst:

  • Lernkultur trifft Leadership: Wie HelloFresh eine Peer Learning Community aufbaut

Der Artikel „Lernkultur trifft Leadership: Wie HelloFresh eine Peer Learning Community aufbaut“ beschreibt, wie eine Peer-Learning-Community für People Leader aufgebaut wurde, die einen agilen Lernansatz mit realen Herausforderungen, Coaching und Wissenstransfer verbindet. Das Programm fördert Selbstverantwortung und Austausch. Lerncoaches spielen dabei eine zentrale Rolle bei der Unterstützung selbstorganisierten und reflektierenden Lernens.

  • Action Points for Learning Professional
  • IAAC Lecture Series – Sanjay Sarma – MIT – The Future of Learning
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Video-Link: https://youtu.be/n-kGUUSjrTg?si=6cFbDCucYpyWwZ6G

Im Video wird auf das vom MIT entwickelte Modell der „agilen kontinuierlichen Weiterbildung“ eingegangen [42:19], das Online-Mikro-Credentials, einwöchige Bootcamps und Praktika/Lehren in Unternehmen kombiniert, um Berufstätigen eine fortlaufende Pflege ihrer Weiterbildung zu ermöglichen. Es wird betont, dass Bildungseinrichtungen flexibler werden und sich anpassen müssen, um nicht obsolet zu werden, und die Integration von Bottom-up-Lernen aus Gemeinschaften wird als wichtig erachtet.

  • The Socratic Explainer

Dieser Beitrag beschreibt einen KI-basierten Lernbegleiter, den sogenannten „Socratic Explainer“, der Nutzende nicht mit fertigen Antworten versorgt, sondern sie durch gezielte Fragen, Analogien und interaktive Dialoge zu eigenen Erkenntnissen führt. Der Lernbegleiter beginnt jedes Thema damit, den Ausgangspunkt des Lernenden, seine Frustrationen und die Relevanz für das reale Leben zu ermitteln.

  • Your Learners are Using AI to Redesign Your Courses

Der Beitrag „Your Learners are Using AI to Redesign Your Courses“ behandelt die Frage, was der KI-Einsatz bei Lernenden im Jahr 2025 über den aktuellen und zukünftigen Zustand des Instructional Designs aussagt. Da Lernende KI zunehmend nutzen, um Bildung neu zu gestalten, sollten wir als Lehrende und Lernexperten aktiv die Integration von KI-Tools in der Bildung vorantreiben und unsere Rolle von Wissensvermittlern zu Moderatoren und Coaches wandeln. Es ist entscheidend, AI-Literacy, kritisches Denken und ethischen Umgang mit KI zu fördern, während wir Lernumgebungen schaffen, die personalisiertes und projektbasiertes Lernen ermöglichen und administrative Aufgaben durch KI entlasten.

  • One Useful Thing

Auf der Webseite „One Useful Thing“ von Ethan Mollick dreht sich alles um Künstliche Intelligenz (KI). Die Seite bietet Einblicke, Anleitungen und Diskussionen über KI, ihre Anwendungen und Auswirkungen, einschließlich praktischer Anleitungen zur KI-Nutzung, historischer Perspektiven und Strategien zur KI-Integration in Unternehmen.

  • Lernplaner

Ein KI Assistent zum Erstellen personalisierter Lernpläne.

  • Leveraging AI transformation to tackle L&D legacies

Die Artikelserie „Leveraging AI transformation to tackle L&D legacies“ beleuchtet, wie die KI-Transformation die Lern- und Entwicklungslandschaft (L&D) beeinflussen wird. Sie bietet eine Anleitung, wie das daraus resultierende Erbe veralteter Systeme und Praktiken bewältigt und in eine umfassende KI-Transformationsstrategie integriert werden kann.

  • How People Are Really Using Gen AI in 2025

Der Artikel „How People Are Really Using Gen AI in 2025“ befasst sich mit einer Studie darüber, wie Menschen generative KI im Jahr 2025 tatsächlich nutzen. Er zeigt eine Verschiebung der Top-Anwendungsfälle von eher technischen zu emotionaleren und selbstverwirklichungsbezogenen Anwendungen, wobei „Therapie/Begleitung“ nun der wichtigste Anwendungsfall ist. Der Beitrag wird als gutes Gedankenfutter für Trainingsteams gesehen, da er einen potenziellen Gap zwischen dem bestehenden Trainingsangebot und den tatsächlichen, sich schnell entwickelnden Bedürfnissen und Anwendungsweisen der Lernenden aufzeigt.

Weitere Link-Empfehlungen aus dem Chat

Hinweise zum Einsatz von KI bei der Erstellung dieses Beitrags

TurboScribe: Videotranskription, ChatGPT: Thematische Gliederung der Transkription in Chunks und Schreibunterstützung, DeepL: Paraphrasierung und Überprüfung.