Für eine Neuorientierung des Corporate Learning

Die betriebliche Arbeitswelt verändert sich mit zunehmender Dynamik. Die Entwicklung zum Social Business, das soziale Medien und Praktiken in die laufenden Aktivitäten der Unternehmen integriert, und das Internet, insbesondere soziale Netzwerke, beeinflussen die Arbeitssysteme in den Unternehmen zunehmend. Detaillierte Vorgaben und ständige Kontrolle verlieren an Bedeutung, dagegen wird Selbstorganisation und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zum gemeinsamen Lernen gefordert.

Der Mensch verliert seinen Alleinvertretungsanspruch auf das Denken. In wenigen Jahren werden humanoide Computer, die menschenähnlich denken, nicht mehr nur technischer Gehilfe, Gerät und Instrument, sondern Lernpartner im eigentlichen Kompetenzentwicklungsprozess sein.[1] Der limitierende Faktor in zukünftigen Lernsystemen ist nicht mehr die Technologie, sondern der Mensch, weil er erst lernen muss, mit seinem neuen, technologischen Lernpartner souverän umzugehen.[2]

Trotzdem verharren die meisten der betrieblichen Bildungs- und der überbetrieblichen Aus- und Weiterbildungssysteme weiter in der Welt des tradierten Seminarlernens. Wir wissen alle, dass eine strenge Kausalität zwischen Lehren und Lernen nicht aufrechterhalten werden kann.[3] Trotzdem dominiert in der betrieblichen Bildung immer noch eine „Belehrungsdidaktik“, die von der Illusion ausgeht, dass man Wissen und Kompetenzen „vermitteln“ könnte. Dabei wird meist die die Erkenntnis ignoriert, dass von dem, was man in Seminaren hört, gerade mal 7 – 8 Prozent in der Praxis angewandt wird.[4] Eine Verschwendung von Energien, die kaum fassbar ist.

Es ist doch absurd zu glauben, man könne in der heutigen Unternehmenswelt die individuellen Lernprozesse der Mitarbeiter zentral steuern und damit auf die strategischen Ziele der Unternehmung hin begrenzen. Die Lernprozesse im Unternehmen werden doch vielmehr durch Regeln, Normen und Werte, die von den Mitarbeitern verinnerlicht sind, koordiniert und synchronisiert. Deshalb ist Lernen kein linearer Prozess, wie es sich viel traditionelle Bildungsverantwortliche wünschen. Aus diesen Erkenntnissen heraus hat sich die Ermöglichungsdidaktik entwickelt, die auf den Prinzipien der Selbstbestimmung und Selbststeuerung basiert und nicht mehr der Anspruch erhebt, man könne Lernprozesse direkt beeinflussen.[5]

Die Lernsituation sollte deshalb nicht mehr vom Inhalt, sondern aus dem Fokus des Lernenden als Lernrahmen gestaltet werden.[6] Daher müssen die bisherigen für alle Lerner gleichen Wissens- und Qualifikationsziele durch individuelle Kompetenzziele jedes einzelnen Lerners ersetzt werden. Bildungsstandards taugen höchstens als Mindestanforderungen oder als Richtziele. Die gewünschte Handlung am Ende des Lernprozesses ist das Ziel, nicht Bulimielernen (Pauken, Ausspucken, Vergessen) . Daraus leiten sich natürlich sehr unterschiedliche Herausforderungen ab, bei deren Bearbeitung Kompetenzen entwickelt werden, je nachdem ob man es mit Auszubildenden oder mit fünfzigjährigen Führungskräften zu tun hat. Das Grundprinzip ist aber immer das Gleiche.

Ich sehe den Ansatz der Ermöglichungsdidaktik als eine wesentliche Grundlage für unsere betrieblichen Bildungskonzeptionen, weil wir damit den Lernern Möglichkeit schaffen, selbstorganisiert ihre Lernprozesse zu gestalten und Selbstwirksamkeit auch persönlich zu erleben. Ich bin davon überzeugt, dass betriebliche Bildung nicht nur dazu beiträgt, zweckorientiert die strategischen Ziele der Unternehmung umzusetzen, sondern dass die Mitarbeiter gerade in kompetenzorientierten Bildungssystemen die Möglichkeit erhalten, darüber hinaus ihre Persönlichkeit, losgelöst von betrieblichen Zielen, zu entwickeln. Wer im betrieblichen Kontext geistigen und physischen Fähigkeiten aufgebaut hat, selbstorganisiert und kreativ in zukunftsoffenen Problem- und Entscheidungssituationen zu handeln, wird dies auch in anderen Lebensbereichen können.

Entspricht dies aber nicht immer stärker dem Menschenbild, das sich im Zuge der Entwicklung zur Enterprise 2.0, zu Industrie 4.0 oder zu Konzepten der Smart Factory heraus schält. Wie sollen die Mitarbeiter denn sonst zukünftig mit zunehmend „intelligenter“ werdenden, humanoiden Computern sinnvoll umgehen können, wenn sie nicht gebildet, d.h. nicht in der Lage sind, selbstorganisiert, kreativ und kritisch diese Systeme zu nutzen?

[1] Vgl. Erpenbeck J, Sauter W (2015)

[2] Vgl. Erpenbeck J, Sauter W (2013)

[3] Vgl. Schüßler, I. (2007)

[4] Kirkpatrick, D.L.; Kirkpatrick, J.D. (2012)

[5] vgl. Arnold, R.; Schüßler, I. (2010); Wahl D. (2006), S. 206

[6] Vgl. Arnold, R. (2000); Wahl, D. (2006)